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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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niemals die Angst in Gustafs Augen vergessen. Ich sehe sie immer vor mir, wenn ich über den Krieg lese. So müssen sie aussehen, die Soldaten, die wissen, dass sie sterben müssen. So voller Angst, dass sie kaum noch menschlich sind. Ich weiß noch, dass ein Vogel vorbeiflog. Den hasste ich, weil er entkommen konnte.
    Als Gustaf sich nicht mehr bewegte, dachte ich, sie wären jetzt fertig, aber der Offizier kam zu mir und fuchtelte mit dem
Messer vor meinem Gesicht herum. Er grinste und sagte, das nächste Mädchen, mit dem ich tanzen wollte, würde wohl die Augen zumachen müssen. Denn er habe vor, mein Gesicht dermaßen zu zerschneiden, dass nicht einmal meine Mutter mich wiedererkennen würde. Dann hielt er das Messer an meine Wange, und plötzlich hatte ich Kräfte, von denen ich nichts geahnt hatte, und riss mich los. Ehe sie mich einholen konnten, kamen andere Leute vorbei, und sie rannten weg.
    Ich spürte nur den Blutgeschmack im Mund, von einem Schnitt an meinem Mundwinkel. Ich stürzte zu Gustaf, hob ihn hoch und trug ihn in die Kaserne. Einer unserer Kapitäne, ein durchaus rechtschaffener Mann, sorgte dafür, dass er Pflege erhielt. Gustaf hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Ich überließ ihn dem Kapitän und holte das Messer aus meinem Rucksack. Danach machte ich mich auf die Suche.
    Ich fand ihn in der Bierkneipe Schell und wartete, bis ich ihn hinter einen Baum treten sah, um sein Bedürfnis zu verrichten. Ich schlich mich von hinten an ihn heran und hatte eigentlich vor, ihm das abzuschneiden, was ihm am liebsten war. Aber als er mich auslachte und sich aus meinem Griff wand, wurde alles schwarz vor meinen Augen. Ich schlug zu. Wieder und wieder, und nach einer Weile stand er nicht mehr auf. Da trat ich ihn, so, wie er Gustaf getreten hatte, und ich brach etwas, das ich nicht hätte brechen dürfen. Ich wollte, dass er sehr lange nicht wieder schlagen könnte. Erst als ich fertig war, versuchte ich, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Das ging nicht. Es war erstarrt.«
    Das Schreckliche, das er da erzählte. Die Übergriffe, die Ungerechtigkeit.
    »Du hast ihm etwas gebrochen?«
    »Ja, und zwar reichlich. Es wäre falsch zu sagen, dass ich das nicht vorgehabt hätte. In dem Moment, als ich ihn schlug,
da war da nur Hass. Ich schlug zurück für alle die Male, wenn mein Vater meine Mutter und uns Kinder geschlagen hatte, für alle Jungen auf dem Schiff. Hier auf Erden wird mir wohl niemand verzeihen können. Aber Gott vielleicht.«
    Ich sah wieder Antons Hände an. Die Hände, die auf dem Banjo gespielt hatten, die sich auf meine gelegt und meine Finger auf die Saiten gedrückt hatten, die Hände, die in meinem Rücken gelegen hatten.
    »Ja, Rakel. Ich habe ihn erschlagen. Muss seinen Kiefer so hart getroffen haben, dass etwas zerbrochen ist.«
    Die Wahrheit, nach der ich nicht hatte fragen wollen, die ich aber doch in Erfahrung bringen musste.
    »Weiß Ruben das?«
    Anton schüttelte den Kopf.
    »Niemand weiß mehr als du. Und die Menschen, die mir auf Marstrand geholfen haben. Ich hatte nämlich Mut genug, um zu dem freundlich gesinnten Kapitän zu gehen und mich selbst anzuzeigen. Ich habe den Offizier zusammengeschlagen, sagte ich. Ich wollte das nicht, aber ich glaube, er ist tot. Vermutlich machte das im Moment keinen großen Unterschied. Der Kapitän war viel zu entrüstet darüber, was Gustaf passiert war. Ich durfte die Nacht in der Kajüte verbringen. In der Frühe weckte mich der Kapitän. Ein Boot legte gerade an, und er hatte mir dort einen Posten als Heizer verschafft, aber ich musste sofort aufbrechen und den Mund halten. Ich raffte meine Habseligkeiten zusammen, und einige Stunden später war ich unterwegs. Wenn jemand bereit gewesen war, mir zu helfen, konnte ich vielleicht Vergebung erlangen.«
    Erst jetzt merkte ich, dass ich zitterte.
    »Und dann?«
    »Ich ging mit versengten Armen und dem Gefühl an Land, der Hölle entkommen zu sein. Du kannst dir das nicht vorstellen,
Rakel. Unter Deck eingesperrt zu sein, inmitten der Heizkessel. Zusatzrationen an Hafermehl und Wasser, um die Hitze aushalten zu können. Finsternis. Schweiß … und die Erinnerung an Gustaf. Ich wollte wissen, was aus ihm geworden war, aber schon wenige Tage nach dem Anmustern erfuhr ich, dass ich gesucht wurde. Mord ist eben Mord, und ein Offizier ist ein Offizier. Mir war klar, dass ich nicht an der Küste bleiben konnte, und so ergriff ich noch einmal die Flucht. Ich kam an eurem Hof vorbei, und

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