Der geheime Brief
den Rest weißt du.«
Mord. Die schlimmste Sünde. Hand an seinen Nächsten zu legen.
»Ich hätte das erzählen müssen, und ich wollte es auch oft tun. Der einzige Grund, warum ich es nicht tat, ist, dass ich diesen Blick nicht sehen wollte, den du jetzt in den Augen hast. Ich werde niemals für jemand anderen dasselbe empfinden wie für dich. Verstehst du, was es für ein Gefühl ist, eine Dreizehnjährige zu begehren? Sie vom ersten Augenblick an zu lieben? Verstehst du jetzt, warum ich euren Hof verlassen habe, ohne mich zu verabschieden? Kannst du mir verzeihen, dass ich mich nie wieder gemeldet habe? Ich habe auch nachts Wache gestanden, aber ich konnte nichts sagen. Du hast Jakob und wirst dein Leben mit ihm zusammen verbringen, nicht wahr? Während ich immer auf der Flucht sein werde, vor mir selbst. So dass Anton Dahlström zu existieren aufhört. Ja, so heiße ich. Anton Rosell ist ein Phantom.«
»Ich will nicht, dass du zu existieren aufhörst. Anton Dahlström oder Anton Rosell. Wie immer du heißt.«
Ich ging zu ihm und sagte das immer wieder. Es war ein Unglück. Du wolltest es nicht. Du hattest den Verstand verloren und hast ein ganzes Leben, um deine Schuld zu bezahlen.
Anton erhob sich und trat dicht an mich heran.
»Sag, dass du Jakob willst. Sag es. Damit ich meiner Wege gehen kann.«
Was hätte ich sagen sollen? Dass ich Jakob wollte, seine Geborgenheit und Ehrlichkeit? Dass ich nicht alles für einen Mann aufgeben könnte und dass Antons Hände kein Ersatz für alles seien? Ich versuchte, etwas zu formulieren, das sich nicht erklären ließ, als mein eigener Körper mich verriet.
Sein Mund auf meinem. Alles wie damals, nur mehr, Banjo und Klavier, kein Anfang und kein Ende, seine Finger rissen an meinem Kleid, irgendein Segen und süße Beeren im Sommer, seine bloße Hand, die Narbe auf der Wange zu küssen und wegzuküssen, kein Schmerz und sein Körper über meinem, leicht wie die Wolke und schwer wie die Sünde, alles endlich eins und kein Wort, nur ein Wille und eine Erklärung, ein »Ich liebe dich«, das nicht gesagt zu werden brauchte, denn es sprengte das All in seiner Unendlichkeit.
Für nichts anderes habe ich gelebt. Wenn mein krankes Blut in einer letzten Freiheitserklärung erkaltet ist, werde ich die Wärme wieder spüren. Wissen, dass es etwas gibt, das Leben heißt, und dass es mir gegönnt war.
Damals.
»Das Schiff wurde gerettet, aber der anschließende Brand war katastrophal. Die hohen, spitzen Flammen töteten alle, die ihnen in den Weg kamen. Nur fünf der siebenundachtzig Männer im Geschützturm konnten sich retten, indem sie durch das kleine Loch krochen, durch das die leeren Verpackungen der Granaten weggeworfen werden. Mehrere von ihnen waren schwer verletzt. Die anderen dreiundsiebzig starben den Heldentod im schweren Geschützfeuer, gemäß dem Befehl ihres Offiziers.«
Georg von Hase, erster Artillerieoffizier auf dem deutschen Schlachtschiff Derfflinger
Kapitel 14
2007
Onkel Ivar bat sie so eindringlich, über Nacht zu bleiben, dass sie schließlich zusagte. Sie glaubte, sie werde die ganze Nacht wach liegen und über alles nachdenken und am Morgen weitere Fragen haben, die nur er beantworten könnte. Doch sie schlüpfte einfach unter die Decke und schlief in einer Erschöpfung ein, die nicht einmal Träume ermöglichte.
Jetzt war es sechs Uhr, und jemand machte sich unten im Haus zu schaffen. Onkel Ivar, der vermutlich das Frühstück vorbereitete. Er war am Vortag so verzweifelt gewesen, hatte immer wieder gesagt, er wolle helfen, und hatte ihr seine Begleitung angeboten. Sie hatte dankend abgelehnt und gesagt, er besuche seinen Bruder oft genug.
Die Blumen auf dem Nachttisch erinnerten sie an Solveig. Ob die Kusine ihres Vaters das alles wusste? Nein. Sonst hätte sie davon erzählt. Was abermals bewies, wie tief die Familie ihre Geheimnisse vergraben hatte.
Sie streckte die Hand nach ihrem Telefon aus und hörte die Nachrichten ab. Niklas’ Mitteilung war die kurze Bitte, vorsichtig zu fahren. Izabella dagegen brauchte länger, um zu erzählen, dass die deutsche Akrobatin, die Inga einige Jahre zuvor fotografiert hatte, bei einer spektakulären Nummer ohne Netz vom Seil gestürzt war. Die Artistin war in ihrem Heimatland sehr bekannt gewesen. Einige deutsche Zeitungen, Zeitschriften
und Fernsehsender hatten in Erfahrung gebracht, dass es in Schweden einzigartige Bilder von ihr gab. Sie hatten Izabella um die Genehmigung zur
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