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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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könnte.«
    Sie drehte sich zu ihm um und sah, dass er noch immer auf
den Schrank zeigte. Er atmete heftiger, sein Brustkorb hob und senkte sich unter dem Pullover.
    »Soll ich weiter im Schrank suchen?«
    Sie ging zum Schrank und sah die Kleiderbügel durch. Nur Kleidungsstücke, keine Wertsachen. Abermals nichts.
    Sie ließ sich auf das Bett sinken und fing an zu weinen. Vielleicht zum ersten Mal in diesem Zimmer. Hier gab es nur die Krankheit ihres Vaters, seine Perspektive, den Willen, dass es ihm gut ging, alles andere verblich zu belanglosen kleinen Wünschen. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ich werde mich nie mehr so einsam fühlen wie jetzt, dachte sie. Plötzlich war die Erinnerung da. Wie ihr Vater auf Schlittschuhen rückwärts lief und sie vorwärts, um ihn einzuholen, vergeblich. Jeden Winter dasselbe Spiel auf dem Eis. An dem Tag, an dem sie ihn hätte einholen können, tat sie es nicht. Sie wollte nicht akzeptieren, dass sie schneller vorwärts laufen konnte als er rückwärts. Denn das hätte etwas verändert … alles.
    Aber es half nichts, dass sie sich dagegen wehrte. Alles war eingestürzt, und sie konnte nichts mehr von ihm erwarten. Sie musste mit der geringen Kraft vorliebnehmen, die mit entsetzlicher Schnelligkeit zu Ende ging.
    Die Tasche.
    Zuerst glaubte sie sich verhört zu haben, glaubte, es sei nicht die Stimme ihres Vaters gewesen. Sie drehte sich um und sah, dass er die Hand gesenkt hatte und dass sein Mund noch immer ein wenig offen stand. Sie ging zurück zum Kleiderschrank, drehte die Kleider um, stülpte die Hosen um und schaute in die Brusttaschen von Mantel und Hemden. Am Ende, als sie hörte, dass der Servierwagen nur noch einige Meter weit weg war, griff sie in ein Jackett und fand eine kleine Tasche, die unter einer Falte im Stoff versteckt war. Sie war mit einem blanken Knopf verschlossen. Sie öffnete sie, schob die Finger hinein
und zog ein dünnes Päckchen heraus. Sie wickelte das Seidenpapier ab. Ein Ring.
    Langsam ging sie zum Bett, setzte sich auf die Bettkante und dachte, es sei der Trauring ihres Vaters, und sie dürfe sich jetzt nichts einbilden. Der Ring war schlicht, aus Gold, das gelber war als achtzehn Karat. Vorsichtig hielt sie ihn ins Licht und las die Gravur. E. Seeger. 2. 3.16.
    Sie ging zurück zu ihrem Vater, der wieder in seiner alten Haltung zusammengesunken war. Sein Blick war abermals leer, und seine Hände lagen bewegungslos nebeneinander auf den Knien.
    »Woher kommt der? Wer ist E. Seeger? Wie kommt sein Ring in deine Tasche? Du hast etwas gesagt, Papa, du kannst etwas sagen, du kannst …«
    Sie setzte sich vor ihn und legte den Kopf auf seine Knie. Die leichte Berührung ihrer Haare konnte von seinen Händen stammen oder von ihren Wünschen, die ihr einen Streich spielten. Dann hörte sie jemanden hereinkommen und hörte eine muntere Stimme am Bett.
    »Ach, die Tochter ist hier. Wie schön. Dann musst du ordentlich essen, wo du so lieben Besuch hast. Ich glaube, du magst unsere Frikadellen, oder?«

Kapitel 15
1959
    Heute Nacht brauste das Meer in meinen Adern. Das Meer ist in mich eingezogen, es hat sich manchmal ruhig und manchmal wild bewegt, war aber niemals dasselbe. Ich konnte nichts tun, konnte nur spüren, wie er unter meiner Haut hallte, dieser Ruf vom Wasser her, dieses Flüstern vom Meeresgrund. Ich verstehe jetzt, dass es nicht mehr lange dauert, und ich hoffe, jemand wird mich empfangen, wird warten wie ein schwarzer Punkt oder ein Foto von früher.
    Ich habe die Schmerzen losgelassen und sage das ganz ehrlich zu meinen Jungen, die sich beide solche Sorgen machen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Der Ältere lebt mit der Trauer, wie er mit der Freude lebt, der Jüngere lebt zwischen den Handflächen des Schicksals wie Spreu im Wind. Ich wünsche mir so sehr, dass er wieder Kraft bekommt und sich von der Erbsünde befreien kann. Es kommt ein neues Leben, dem er seine Liebe schenken kann, und vielleicht wird ihn das retten.
    Ich ignorierte das Versprechen, das ich Jakob gegeben hatte, als ich mich in Antons Bett legte. Ich blieb in der Nacht bei ihm und musste mich morgens hinausschleichen. Keine Damenbesuche in diesem anständigen Haus, das war ja wohl klar. Er küsste mich immer wieder. Sein Hemd war nicht zugeknöpft, und ich folgte seinen Augenbrauen mit den Fingern und wusste, dass ich nach Hause gekommen war.

    Er wagte schon jetzt zu fragen. Komm mit mir, Rakel. Wir gehen mit Ruben und Lea nach Amerika.

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