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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Veröffentlichung gebeten. Ob Inga sie zurückrufen könnte.
    Barbaras Wunsch hatte sich erfüllt. Das »Scheißleben« hatte ein Ende genommen. Jetzt waren ihre Bilder gefragt. Die ebenso beschissen waren. Sie hatte sie nie wieder ansehen können, ohne in Gedanken Izabellas Kommentar zu hören, und es spielte keine Rolle, dass die Ausstellung durchaus Erfolg hatte. Ein Kritiker hatte eine Entwicklung zur fast sakralen Interpretation von Objekten und Personen erkannt. Ein anderer fand, ihre Fotos bildeten einen reifen Kontrast zur »frischen Herangehensweise des jungen Kollegen«. Sie hatten Fragen nach dem Motiv gestellt, die Inga nicht beantworten konnte. Die Vernissage war nur wenige Wochen nach Mårtens Beerdigung gewesen. Noch immer konnte sie sich nur vage daran erinnern.
    Izabella hatte ihr Urteil über die Zirkusbilder nicht zurückgenommen. Aber im tiefsten Herzen hatte Inga eingesehen, dass sich Izabellas Kritik noch immer im Rahmen der Zustimmung bewegte. Die Galeristin konnte ja nicht ahnen, wie brüchig Ingas Glaube an ihre Schaffenskraft wirklich war. Vielleicht verhielt sich das bei anderen Fotografen auch so, das wusste sie im Grunde nicht. Unter Kollegen wurde nur selten über solche Dinge gesprochen.
    Vorsichtig schlich sie sich nach unten. Onkel Ivar hatte tatsächlich ein Frühstück vorbereitet, das jeder gut geführten Pension Ehre gemacht hätte, und wie sie das alles um halb sieben Uhr morgens aufessen sollte, war ein Rätsel. Aber sie war gerührt über diese Fürsorge ihres Onkels. So zeigte er seine Liebe. Sie stellte sich vor, wie er die Gurke zerschnitt, um den Teller mit dem Schinken zu verzieren, und fragte sich, ob sie so
alt werden würde wie er. Neunzig Jahre. Wenn man bei guter Gesundheit blieb, lautete die Standardantwort. Ehrlich gesagt, war sie sich nicht sicher. Obwohl einer der Ärzte im Pflegeheim ihres Vater zu ihr gesagt hatte, als es ihm wieder einmal gelungen war, dem Tod von der Schippe zu springen: »Wenn es dann so weit ist, wollen nur sehr wenige das Leben verlassen.« Man weiß, was man hat, aber nicht, was man kriegt, so prosaisch hatte er das ausgedrückt.
    Onkel Ivar erzählte, wie ungeheuer viel Spaß sie in der Familie gehabt hatten. Seine Gabel schrappte über den Teller, als er sein Spiegelei zerschnitt. Das Eigelb war perfekt, außen fest und innen cremig.
    »Wie war meine Großmutter eigentlich?«
    Onkel Ivar ließ sein Besteck sinken.
    »Mama war wirklich ein feiner Mensch«, antwortet er. »Das soll nicht heißen, dass sie immer leicht im Umgang war. Sie konnte sehr scharf werden, wenn ihr jemand oder etwas nicht passte. Denn sie war ehrlich und sagte ihre Meinung, auch wenn das unangenehm war. Und sie war witzig. Wenn sie vorlas, verwandelte sie sich in alle Figuren und verstellte ihre Stimme. Sie spielte richtig Theater. Und obwohl sie so viel zu tun hatte … als Pastorenfrau mit allem, was dazugehörte, Gemeindearbeit, Klavierunterricht … so hatte sie doch immer Zeit für mich. Wie auch später für deinen Vater. Nichts war so wichtig, dass wir sie dabei nicht hätten unterbrechen dürfen. Alles um sie herum war schön, und trotzdem achtete sie nicht auf Flecken auf der Tischdecke oder gesprungene Vasen. Und sie war sinnlich.«
    »Sinnlich?«
    »Sie hatte eine Ausstrahlung, wie … Wenn sie ein Zimmer betrat, erfüllte sie dieses Zimmer. Einfach, weil sie die war, die sie war. Bestimmt wollte im Laufe der Jahre eine Menge Männer
in ihre Nähe kommen. Ob ihnen das gelungen ist - darüber schweigt die Geschichte.«
    Er erhob sich und brachte ein Foto zurück. Da war es. Das Foto der Großmutter mit Onkel Ivar auf dem Schoß, an das sie vor einigen Tagen gedacht hatte. Eine Frau mit einem kunstvollen Nackenknoten und einem dunklen Kleid. Onkel Ivar in Weiß. Der Blick der Großmutter. Scharf und unergründlich.
    »Das ist ein schönes Foto.«
    »Möchtest du es haben?«
    »Aber deine Söhne möchten es doch vielleicht….?«
    Onkel Ivar nahm ihr das Foto weg, steckte es in eine Papiertüte und sagte, ihre Großmutter hätte sicher gewollt, dass ihre einzige Enkelin das Bild bekäme, und seine Jungs hätten es oft genug angeglotzt, genau wie er selbst. Dann bat er sie, auf dem Rückweg vorbeizuschauen. Sie sagte zu, bot an abzuspülen, war aber froh, dass ihr das erspart blieb. Eine Viertelstunde später stand sie neben dem Auto, mit Onkel Ivars Faust in der einen und einer großen Tüte voll Proviant in der anderen Hand.
    »Wirst du Johannes grüßen?

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