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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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verbannte. Er fühlte nur, wie das Tal immer stiller wurde, während er auf die blauen Blüten starrte. Er wußte nicht, wie lange er schon dasaß und was wirklich in ihm vorging. Schließlich erhob er sich langsam, stand auf dem Teppich aus Moos, atmete ganz tief und wunderte sich über sich selbst. Irgend etwas schien sich in ihm gelöst zu haben. »Was ist das nur?« fragte er flüsternd. Er strich mit der Hand über die Stirn. »Mir ist plötzlich, als wäre ich am Leben!«
    Er verstand sich selbst nicht, doch viel später, Monate später, als er wieder in Misselthwaite war, erinnerte er sich an diese Stunde, und er fand durch einen Zufall heraus, daß am gleichen Tag sein Colin im geheimen Garten gejubelt hatte: Ich werde ewig leben!
    Die seltsame Ruhe blieb den ganzen Abend in ihm, und in der Nacht schlief er friedlich und fest. Danach verlor sich das Gefühl wieder. Er wußte noch nicht, daß man es festhalten kann. In der folgenden Nacht ließ er die dunklen Gedanken wieder in Scharen in sein Herz einziehen. Bald danach verließ er das Tal und nahm seine ruhelose Wanderung wieder auf. Aber seltsam: immer wieder kamen Minuten, ja halbe Stunden, in denen die dunkle Last aus irgendeinem Grund von ihm abfiel. In diesen Augenblicken fühlte er, daß er lebte, daß er kein toter Mann war. Langsam, ganz langsam, ohne die Ursache zu kennen, erwachte er zum Leben wie der geheime Garten.
    Als der blendende Sommer sich in einen tiefgoldenen Herbst verwandelte, befand er sich am Comersee. Hier war die Landschaft so lieblich wie ein Traum. Er verbrachte die Zeit in einem Boot auf dem kristallklaren Wasser, oder er wanderte durch das sanfte, dichte Grün der Hügel, bis er müde war und schlafen konnte. Er schlief jetzt besser. Die alten, traurigen Träume quälten ihn nicht mehr. Vielleicht, dachte er, bin ich gesünder geworden.
    Er begann an Misselthwaite zu denken und überlegte, ob er nicht heimfahren sollte. Dann fiel ihm sein Sohn ein. Er sah sich im Geist an dem Bett mit den vier geschnitzten Pfosten stehen. Was würde er empfinden, wenn er wieder in das weiße Gesicht sehen müßte, das schlafend dalag? Die langen dunklen Wimpern würden die festgeschlossenen Augen fast unheimlich einrahmen. Er schreckte vor dem Gedanken zurück. An einem wundervollen Tag war er so weit gewandert; bei seiner Rückkehr stand der Mond schon hoch und voll am Himmel. Die Stille am See und in den Wäldern war so herrlich, daß er noch nicht in die Villa, in der er wohnte, zurückkehren wollte. Er schritt auf eine kleine schattige Terrasse zu, die am Rande des Wassers lag. Auf einem Sessel nahm er Platz und atmete die köstlichen Düfte der Nacht ein. Er fühlte, wie die Einsamkeit ihn wieder überkam. Schließlich schlief er ein. Er begann zu träumen. Der Traum war so lebendig, daß er ihn nicht als Traum empfand. Er erinnerte sich später, daß er sich eingebildet hatte, ganz wach und munter zu sein. Er glaubte eine Stimme zu hören. Sie schien von weit her zu kommen. Aber er hörte sie ganz deutlich.
    »Archie! Archie!« rief die Stimme. Und dann wieder, noch süßer und klarer: »Archie! Archie!«
    Er war nicht einmal besondes überrascht. Die Stimme klang so echt. Und es kam ihm auch ganz natürlich vor, daß er sie hörte.
    »Lilian! Lilian!« antwortete er. »Lilian, wo bist du?«
    »Im Garten«, klang die Stimme, hell wie eine goldene Flöte. Dann war der Traum vorbei. Aber der Mann erwachte nicht. Er schlief sanft und tief die ganze Nacht hindurch. Als er aufwachte, war es Morgen. Ein Diener stand vor ihm. Er war Italiener und gewohnt, alle Merkwürdigkeiten dieses ausländischen Gastes stillschweigend hinzunehmen. Man kümmerte sich nicht darum, wohin er ging, wo er schlief, ob er im Garten umherirrte oder im Boot auf dem See lag. Der Diener hielt ein silbernes Tablett, auf dem einige Briefe lagen. Er wartete geduldig, bis Mr. Craven sie an sich nahm. Als der Italiener gegangen war, blieb Mr. Craven mit den Briefen in der Hand sitzen. Er schaute auf den See. Der seltsame Friede lag noch über ihm und noch etwas anderes — etwas wie Erleichterung.

    Er erinnerte sich an den Traum.
    »Im Garten!« sagte er sinnend. »Im Garten! Aber das Tor ist doch verschlossen und der Schlüssel tief vergraben.«
    Als sein Blick dann auf die Briefe fiel, sah er, daß obenauf ein Schreiben aus England lag. Es kam aus Yorkshire. Die Schrift wirkte sehr schlicht; es war eine weibliche Handschrift, die er nicht kannte. Er öffnete den Umschlag.

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