Der Geheimnistraeger
würzte es dann mit Pfeffer und Oregano. »Im Schrank ist Brot«, sagte sie und wies nickend nach rechts. »Messer sind in der Schublade daneben.
Im Augenblick sind nicht viele da«, erklärte sie, als sie sich zum Essen hinsetzten. »Normalerweise sind wir mindestens zwanzig hier im Haus. Aber heute ist in Rom eine Direktaktion, an der wir teilnehmen. Obwohl wir immer zusehen, dass jemand hier ist. Das Haus steht nie leer.«
Sie machte eine Handbewegung Richtung Korridor. »Wir haben es vor einem Monat besetzt. Wir sind noch nicht dazugekommen, mehr als zwei Stockwerke aufzuräumen. Den Rest machen wir so nach und nach. Wenn uns die Polizei nicht aufhält.«
»Wofür braucht ihr das Haus?«, fragte Paolo.
»Das habe ich doch gesagt«, antwortete Francesca. »Wir haben es befreit. Das bedeutet, dass jeder, der daran teilgenommen
hat, dieses Areal aus den bestehenden Machtstrukturen auszuklinken, es nun auf seine Art weiterentwickeln kann. Wenn wir von vornherein entscheiden, was erlaubt ist und was nicht, dann werden wir scheitern. Hier ist schon recht viel los. Das Radio beispielsweise. Aber ich bin nicht naiv. Ich sehe ein, dass das aus einer größeren Perspektive betrachtet nicht ins Gewicht fällt. Aber es ist ein Beispiel für andere, und für uns selbst ist es wichtig. Wir übernehmen die Verantwortung für unser Leben.«
Während der einstündigen Sendung stand Paolo im Hintergrund und lauschte dem Gespräch. Francesca besaß einen wachen Intellekt und stellte nicht bloß Fragen, es gelang ihr, eine Diskussion zu entspinnen, in der sie in ihrer Meinung jedoch nur selten von der des Mannes abwich, der ihr gegenübersaß. Er sah, dass die beiden aufeinander eingespielt waren, sie lächelte und ermunterte ihn mit ihren Gesten. Der Mann, der mindestens fünfzehn Jahre älter war als Francesca, war begierig auf ihre Aufmerksamkeit und sprach wortreich. Paolo war eifersüchtig, aber redete sich ein, dass sie nur ihre Arbeit machte.
Nach der Sendung standen der Mann und Francesca im Korridor. Paolo sah, dass er ihre Hand mit seinen beiden Händen nahm und sich zu ihr vorbeugte. Er hörte nicht, was der Mann sagte, sah aber, dass sie den Kopf schüttelte und sich vorsichtig seinem Griff entzog. Er hatte eine Ahnung, worum es ging, und die Enttäuschung versetzte ihm einen Stich, als sie anschließend trotzdem stehen blieben und sich weiter unterhielten. Warum akzeptierte sie die Verführungskünste dieses kläglichen Chauvinisten? Warum schrie sie ihn nicht an, wie sie das bei ihm getan hatte? War dieser Mann so viel bedeutender als er selbst?
Wenig später standen Paolo und Francesca allein auf der Straße. Paolo war einsilbig, die Szene auf dem Korridor
schmerzte ihn immer noch. Schließlich schlug er vor, ein Café aufzusuchen, aber Francesca sagte sofort nein. Sie müsse wegfahren. Warum oder wohin sagte sie ihm nicht. Aber wenn er wolle, könne er nächsten Dienstag an einer Versammlung im Haus teilnehmen.
Paolo folgte Francesca mit dem Blick, als sie ging. Er hoffte, dass sie sich zu ihm umdrehen würde, aber das tat sie nicht. Er trottete in die entgegengesetzte Richtung davon, wurde aber nach nur wenigen Schritten von zwei Männern aufgehalten. »Könnten Sie uns bitte Ihren Namen sagen?«, sagte der eine. »Warum das?«, fragte Paolo. Der andere Mann zog einen Dienstausweis der Polizei aus der Tasche. »Ihren Namen, danke«, sagte er.
Paolo sah sich den Dienstausweis an. »Warum?«, wiederholte er.
»Wir wollen Ihren Namen wissen. Hier oder auf der Wache. Das bleibt Ihnen überlassen.«
Der Ton war höflich. Das Ansinnen der Männer war keinesfalls aggressiv. Paolo tat, worum man ihn gebeten hatte. Er nannte ihnen auch noch seine Personenkennziffer und seine Adresse, als ihn die Beamten weiter befragten.
»Danke und auf Wiedersehen«, sagte der eine Mann und nickte Paolo freundlich zu. Der andere steckte seinen Notizblock in seine Gesäßtasche und trat auf dem Bürgersteig beiseite. Paolo ging an ihm vorbei und schlenderte nach Hause. Er hatte das Gefühl, dass sich sein Leben unwiderruflich verändert hatte.
6. Kapitel
Am Sonntag begleitete Paolo seine Mutter zur Messe in die San-Petronio-Kirche. Es erstaunte ihn, dass auch Gina mitgehen wollte. Es war das erste Mal seit dem Tod ihres Vaters, dass sie selbst die Initiative ergriffen hatte, die Wohnung zu verlassen. Seine Schwester sah zerbrechlich aus, aber nicht so in sich gekehrt wie früher, ihr Blick war fester.
Anschließend schlug
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