Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
Vom Netzwerk:
Bestätigung seiner Auffassung über den Charakter der Unterdrückung, statt die Methoden zu hinterfragen.
    Das Haus in der Via Mirasole mussten die Autonomen bereits nach fünf Monaten Besetzung aufgeben, da Polizei und Carabinieri beschlossen hatten, das Gebäude zu räumen. Die Räumung verlief gewaltsam, einige Besetzer weigerten sich, das Haus zu verlassen, stellten sich ans Fenster und bewarfen die Polizeitruppe auf der Straße mit allem, was ihnen in die Finger
kam. Paolo und Francesca übten Gewaltverzicht, sie leisteten keinen aktiven Widerstand, sondern legten sich auf den Fußboden, als die Polizei das Gebäude stürmte. Passiv ließen sie sich nach draußen tragen. Beide erhielten an Oberkörper und Armen Schläge von Schlagstöcken. Die blauen Flecken kamen ihnen wie eine Auszeichnung vor.
    Die folgenden Jahre waren von Hausbesetzungen, Demonstrationen, Handelsboykotts, Radiosendungen und großen, alternativen Festen erfüllt. Aber weder Paolo noch Francesca fanden, dass dies genügte. Die Entwicklung forderte neue Gedanken, und sie wurden schneller als viele in ihrem Umfeld radikalisiert. Die Proteste mussten erweitert und die Schläge gegen den Feind, das internationale Finanzkapital und die kriegstreiberische Waffenindustrie, mussten härter und wirkungsvoller werden. Sie begannen mit Aktionen in Deutschland und England, gegen Gipfeltreffen und Sondermülltransporte von Kernkraftwerken. Sie trampten oder fuhren schwarz mit der Bahn, sie schliefen unter freiem Himmel oder in besetzten Häusern, sie teilten ihr Brot mit Demonstranten aus anderen Ländern.
    Drei Jahre nach Ginas Tod legte Paolo sein BWL-Examen ab. Er hatte das Studium nicht aufgegeben, da ihm die Angst der armen Leute, sich nicht sattessen zu können, in den Knochen saß. Seine Noten waren weder besonders gut noch besonders schlecht. Dann begann er mit der Arbeitssuche. Er wollte sich nicht von Firmen des Großkapitals anheuern lassen, durch seine Ausbildung hatte er dafür auch nicht das richtige Profil. Er glaubte, dass er bei einem kleineren Unternehmen oder bei einer Stiftung eine Arbeit finden könnte.
    Bei jeder Bewerbung sah er sich einer riesigen Konkurrenz gegenüber. Aufgrund der Arbeitskrise gab es Hunderte arbeitsloser BWLer, die jede Arbeit annahmen. Schon seine Adresse
in Pilastro führte dazu, dass er aus dem Stapel derjenigen, die verzweifelt Arbeit suchten, aussortiert wurde. Irgendwelche nützlichen Kontakte besaß er ebenfalls nicht. Überall stieß er auf unsichtbare Mauern.
    Schließlich sah er sich gezwungen, einfachere, manuelle Arbeiten anzunehmen, um über die Runden zu kommen. Er überlegte, wie sinnvoll es wohl war, für teures Geld zu studieren, um dann zu einem Lumpenintellektuellen zu verkommen, wie es bei ihm der Fall war. Die zeitgenössische Entsprechung des alten Lumpenproletariats. Er war bloß Kanonenfutter, er gehörte zu den Unmassen gut ausgebildeter junger Leute, die sich auf der Suche nach Arbeit in einer Welle nach der anderen in die Schützengräben warfen und dann in Scharen fielen.
    Für Francesca sah die Situation anders aus. Wie Paolo geahnt hatte, besaß sie wohlhabende Eltern. Sie sprach nicht gerne über sie, denn ihr Hintergrund war in ihren politischen Kreisen nicht unbedingt von Vorteil, aber sie wohnte weiterhin in ihrer Villa. Sie liebte ihre Mutter. Ihre Familienverhältnisse brachten es mit sich, dass sie sich über ihr materielles Überleben keine Gedanken zu machen brauchte. Ihre Eltern wussten, dass ihre Tochter, wenn sie erst wieder in die Gesellschaft, ihre Gesellschaft, zurückkehrte, schnell jede Arbeit, die sie sich wünschte, finden würde. Sie sahen sie bereits als erfolgreiche Journalistin. Francescas Sendungen innerhalb des autonomen Netzwerkes waren immer professioneller geworden. Deswegen versuchten sie auch nicht, ihre Tochter unter Druck zu setzen, sondern ließen sie gewähren. Sie warteten ab.
    Es gab einen weiteren Grund, warum Francesca ihr Elternhaus nicht verließ: ihre Krankheit. Francesca war Epileptikerin, und diese Krankheit erforderte genaue Kontrolle. Ihre Mutter sorgte dafür, dass Francesca die richtigen Medikamente zum
richtigen Zeitpunkt nahm. Francesca fügte sich in die Abhängigkeit von ihrer Mutter.
    Nur ausnahmsweise blieb sie über Nacht bei Paolo. Jede dieser gemeinsamen Nächte betrachtete er als Geschenk. Die ständige Unsicherheit ihrer Beziehung quälte ihn. Waren sie Freunde oder Liebende? Aber er fand Trost in der Tatsache, dass sie,

Weitere Kostenlose Bücher