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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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Paolo einen Spaziergang vor. Es war ein warmer, von Düften erfüllter Herbsttag. Er freute sich, dass sich Gina offenbar kräftiger fühlte. Ihre Mutter meinte, sie wolle das Mittagessen vorbereiten und forderte die Kinder auf, ohne sie weiterzugehen.
    Er ließ Gina entscheiden, wo sie hingehen würden, wurde aber etwas unruhig, als er merkte, wohin sie ihn führte. Auf diesen Straßen war ihr Vater zur Ziegelei geradelt. Gina ging langsam, aber schien ein Ziel vor Augen zu haben. Nach zwanzig Minuten waren sie dort. Wo die Ziegelei gestanden hatte, war nur noch eine Brache.
    »Ich wusste nicht, dass sie die Ziegelei abgerissen haben«, sagte Paolo.
    »Alles ist weg«, meinte Gina.
    Sie standen eine Weile da und schauten sich um. Paolo beugte sich vor und hob den Splitter eines roten Ziegelsteins auf.
»Die Spuren sind noch da«, sagte er. Dann nahm er wieder Ginas Arm und zog leicht daran. Es war an der Zeit, wieder nach Hause zu gehen.
     
    Am Tag darauf fiel es Paolo schwer, sich in der Vorlesung zu konzentrieren. Unablässig schaute er auf die Tür der Aula und hoffte, dass Francesca hereinkommen würde. Aber sie zeigte sich nicht. Er dachte an seine Schwester, die gesagt hatte, dass sie ihre Medizin nicht mehr nehmen wolle. Sie hatte das nach dem Mittagessen gesagt, nach dem sie sonst immer ihre Tabletten nahm. Er hatte gefragt, ob sie mit ihrem Arzt gesprochen habe, aber Gina hatte diese Frage nicht beantwortet. Paolo hatte ihr angeboten, dass sie jederzeit, wenn es ihr nicht gut ginge, zu ihm nach Hause kommen könnte.
    Am Nachmittag versuchte er zu Hause an seinem Schreibtisch zu lesen, aber die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Sie wollten sich nicht zu Worten und Zusammenhängen fügen. Francesca, Gina … sie erfüllten seine Gedanken. In einem Monat fand die erste Prüfung des Semesters statt. Er sah ein, dass er sich zusammennehmen musste. Aber stattdessen legte er sich aufs Bett und verfiel in eine Art Schlummer.
    Er wurde aus seinem Schlaf gerissen, als es an der Tür hämmerte. Er fühlte sich fast wie von Rauschmitteln betäubt, als er schwankend aufstand und die Tür öffnete. Draußen stand ein Mann, den er nicht kannte. Er hielt ihm einen Ausweis unter die Nase. Paolos Blick war noch zu verschwommen, als dass er die kleinen Buchstaben des Namens hätte lesen können, aber er sah, dass es sich um einen Polizeistempel handelte.
    »Ich muss Sie bitten, mich zu begleiten«, sagte der Mann.
    Jetzt schon, dachte Paolo. Die Burschen sind wirklich nicht faul. Nach seinen Erfahrungen mit der Polizei ein paar Tage zuvor entschloss er sich, nicht zu widersprechen, sondern zog
einfach nur die Schuhe an und folgte dem Beamten auf die Straße.
    Schweigend saßen sie im Auto. Paolo fragte sich, auf welche Wache sie wohl fahren würden. Aber das Auto bog in eine unerwartete Richtung ab. Nach ein paar Minuten hielten sie vor einem Gebäude mit großem erleuchtetem Entree.
    »Was wollen wir hier?«, fragte Paolo. Er war zunehmend beunruhigt.
    »Man wartet dort drinnen auf Sie«, antwortete der Beamte und nickte in Richtung des Hauses, eine Aufforderung an Paolo, allein weiterzugehen. Paolo zögerte, öffnete aber dann die Tür und trat ein. Eine Frau empfing ihn.
    »Sie kommen gleich zu Ihrer Mutter«, sagte die in Weiß gekleidete Frau. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest. »Es geht um Ihre Schwester«, sagte sie. »Wir konnten sie nicht retten. «
    Paolo starrte die unbekannte Frau an. Stumm stand er vor ihr, als sie zu erzählen begann. »Sie warf sich aus dem Fenster. Das ist erst eine Stunde her. Ich glaube nicht, dass sie sehr lange litt. Sie war bereits tot, als der Krankenwagen eintraf. Es tut mir wirklich aufrichtig leid.«
    Wie durch Nebel wurde Paolo in ein Zimmer geführt. Seine Mutter lag auf einer Pritsche. Ihre Lippen versuchten Worte zu formen, es war jedoch kein Laut zu vernehmen. Ihr Blick flehte um Gnade. Paolo ließ sich neben seiner Mutter auf die Knie sinken und ergriff ihre beiden Hände. Sie kam mit Mühe in eine sitzende Stellung, umklammerte Paolo und schrie.
     
    Paolo blieb die ganze Nacht zusammen mit seiner Mutter im Krankenhaus. Er hatte seine Schwester gesehen und eine seltsame Freude darüber empfunden, dass ihr Kopf unverletzt war. Gegen Morgen machte er sich auf den Weg nach Hause. Er ging
in ein Café, in dem sein Vater manchmal vor der Arbeit seinen Morgenkaffee getrunken hatte, und ließ sich dort ein Blatt Papier und einen Stift geben. Er schrieb eine kurze

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