Der Geheimnistraeger
Mitteilung, faltete das Papier und fragte nach einem Umschlag. Einen Umschlag hatte die Serviererin nicht, aber ein Stück Klebestreifen, um den Brief zuzukleben. Auf die Vorderseite schrieb er »Francesca«.
Er stieg in einen Bus und fuhr in das Haus in der Via Mirasole. Niemand schien so früh wach zu sein, deswegen legte er den Brief auf die Schreibmaschine, die Francesca am Samstag benutzt hatte.
Auf einen kurzen, unruhigen Schlaf folgte ein chaotischer Tag. Seine Mutter war in einem schlimmeren Zustand als er selbst. Der Versuch, sie zu trösten, war anstrengend, lenkte ihn aber auch ab. Paolos Tante, die ältere Schwester seiner Mutter, traf am Abend mit der Bahn aus dem Süden ein. Als die Dunkelheit hereinbrach, sah die Tante, dass Paolo vollkommen übermüdet war. Sie ermahnte ihn, nach Hause zu gehen, um zu schlafen. Paolo gehorchte ihr widerspruchslos.
Um zehn Uhr abends klopfte es zu Hause bei Paolo leise an der Tür. Die Erinnerung an den Besuch vom Vorabend kehrte siedend heiß zurück. Als er öffnete, stand Francesca vor ihm. Er trat beiseite, um sie hereinzulassen, aber sie hielt auf der Schwelle inne und umarmte ihn.
Er machte sich behutsam los und schloss die Tür hinter ihr. Er wollte sie fragen, wie sie ihn hatte finden können, denn er konnte sich nicht erinnern, dass er ihr seine Adresse genannt hatte. Aber das spielte keine Rolle. Sie war jetzt bei ihm.
Sie zogen sich aus und legten sich nebeneinander ins Bett. Ihre Haut war genauso weich, wie sie es in seiner Fantasie gewesen war, ihre Taille und Hüften folgten der Woge aus Schmerz
und Freude, die er in sich spürte. Er legte seine Hand auf ihr Geschlecht, so warm und so weich. Dann folgte eine kurze, hitzige Vereinigung. Der Tod und das Leben in einer Umarmung.
Anschließend weinte er lange in ihren Armen.
7. Kapitel
Ginas Tod veränderte alles. Sowohl Paolo als auch seine Mutter suchten Erklärungen für das Unglück, das sie heimgesucht hatte. Sie konnten einfach nicht akzeptieren, dass es auf einen Zufall oder eine innere Schwäche Ginas zurückzuführen sein sollte. Ihr Selbstmord hing mit den Veränderungen der Gesellschaft zusammen, den aufgepfropften Krankheiten eines einst kerngesunden Baumes.
Paolos Mutter wurde zusehends verdrossener und aggressiver. Sie betrachtete die Araber und Albaner, die in ihr altes Arbeiterviertel gezogen waren, mit immer größerem Missfallen. Das Viertel war ursprünglich für Migranten wie sie erbaut worden, für ehrliche Italiener aus Sizilien und Kalabrien. Zwei Jahre nachdem sich die Tochter aus dem Fenster im sechsten Stock gestürzt hatte, trat die Mutter der Lega Nord Umberto Bossis bei. Sie wurde bald als eine der extremsten Agitatorinnen der Bewegungen in Bologna bekannt. Einige der alten Kameraden ihres verstorbenen Mannes aus der PCI fühlten sich verpflichtet, sich von ihr zu distanzieren, einer von ihnen rief ihr auf der Straße »Faschistin« hinterher. Paolos Mutter reagierte mit einer wütenden Beschimpfung, und der alte Kommunist ergriff die Flucht.
Paolo hörte sich die bitteren Auslassungen seiner Mutter
an, gab ihr auch manchmal recht, konnte aber nicht nachvollziehen, was der Araber in der Wohnung gegenüber mit dem Tod seiner Schwester zu tun haben sollte. Für Paolo war Ginas Selbstmord vielmehr die letzte Station einer langen Reise gewesen, die mit dem Tod des Vaters begonnen hatte. Und Paolo begriff die Zusammenhänge: Sein Vater war an der kapitalistischen Unterdrückung gestorben und daran, dass die Kommunistische Partei versagt hatte. Sein verfehltes Leben hatte Gina mit in den Abgrund gezogen.
Paolo zwang sich dazu, Stellung zu beziehen, um Gina nicht zu verraten. Er wurde Antikapitalist und Revolutionär. Er ging zu den etablierten Parteien auf Distanz. Das Weltbild der autonomen Bewegung verschmolz mit seinem privaten. Er schloss sich einer Bewegung an, die mit den Strukturen der alten Gesellschaft nichts zu tun hatte, die Sozialismus im Handeln forderte und ihre eigenen Alternativen schuf. Eine Bewegung, die ohne zentrale Leitung handelte und die menschliche Gemeinschaft jenseits von Materialismus und Konsum bot.
Francesca hatte großen Einfluss auf Paolos Denken, sein Wunsch, ihr nahe zu sein, hatte ihn in eine andere Richtung als seine Mutter getrieben. Sein neuer Standpunkt erschien ihm so bedeutsam und allumfassend, dass er aufhörte, über die Möglichkeiten der Bewegung nachzudenken. Niederlagen nahm er als vorübergehend hin. Er sah sie eher als
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