Der Geheimnistraeger
bei Bea genauso. Er fuchtelte wieder mit der Pistole und rief den beiden Frauen etwas zu, die ihre Arme über den Köpfen hielten. Janina hörte, dass das Russisch war und dass der Mann zu ihnen sagte, sie könnten gehen. Sie wollte ihnen helfen, das zu verstehen; ihr könnt fliehen! , aber der Knebel hinderte sie daran.
Der Mann schrie etwas in einer neuen Sprache, die Janina nicht verstand. Dann stieß er einer der beiden Frauen, die nicht geknebelt waren, die Pistole in den Rücken. Die beiden jammerten verängstigt, aber schließlich verstanden sie. Sie standen auf und rannten nach draußen.
Janina und Bea blieben zurück. Nimm schon das Geld, dachte Janina. Nimm es einfach und verschwinde, tu uns nichts. Aber der Mann machte keine Anstalten die Kassen zu öffnen. Janina sah sich einem Verrückten mit Pistole ausgeliefert, ohne zu wissen, was er wollte. Sie schaute Bea an, diese hatte die Augen geschlossen, nein, nicht nur geschlossen. Sie kniff die Augen zu. Ganz fest.
Der Mann zog ein breites Klebeband hervor und wickelte es um Beas Oberkörper und die Lehne ihres Stuhls. Bei Janina machte er es genauso. Sie war gefangen. Eine Erinnerung tauchte in ihrem Kopf auf. Ein Film mit Robert de Niro. Ein verrückter Tscheche hatte ihn an einem Stuhl festgebunden. Ein Kamerad des Tschechen, ein Russe, filmte das Ganze. Sie
wollten berühmt werden. Sie wollten de Niro vor laufender Kamera erschießen. Aber er kam auf die Füße. Mit dem Stuhl auf dem Rücken schlug er den Revolvermann mit einem Stuhlbein nieder. Nach einer heftigen Schlägerei endete die Szene dann damit, dass de Niro doch erschossen wurde.
Janina hörte die Sirenen. Rettet uns!, dachte sie. Kommt und rettet mich! Kurz darauf klingelte das Telefon. Versuchte jemand, mit dem Irren Kontakt aufzunehmen? Aber der Mann hob den Hörer nicht einmal ab. Dann hörte Janina eine Stimme von draußen. Die Sicherheitstür stand wohl immer noch offen. Jemand versuchte mit ihnen zu sprechen, das musste ein Polizist sein. Sie hatten sich natürlich mit Janinas beiden Kolleginnen unterhalten, die entkommen waren, und wussten genau, was drinnen vorging. Rettet mich doch endlich!
Er antwortete dem Polizisten in dieser unbegreiflichen Sprache. Sie klang beinahe wie Dänisch, aber dann auch wieder nicht. Dänisch verstand sie ein wenig wegen der Touristen, die zur Wechselstube kamen. Das hier klang seltsam, es musste eine andere Sprache sein.
Janina sah den Mann an. War er vollkommen durchgeknallt? Er schien selbst nicht recht zu wissen, was er eigentlich wollte. Er rief denen da draußen gelegentlich etwas zu oder schwieg einfach nur. Die Zeit schien sich aufzulösen, aber sie war in jeder Sekunde völlig präsent, ohne jedoch zu wissen, ob fünf Minuten oder eine halbe Stunde vergangen waren.
Eine neue Stimme war zu vernehmen. Auch ein Mann, er sprach richtiges Dänisch. War das ein Polizist? Janina begriff, dass er versuchte, mit dem Verrückten, der Bea und sie als Geiseln genommen hatte, Kontakt aufzunehmen. Bea jammerte immer lauter und warf den Kopf hin und her. Dann hörte sie, dass die Tür aufgerissen wurde. Jemand stürmte herein. Rette mich!
Der Mann mit der Pistole wich weiter in den Raum zurück und stellte sich hinter Janinas Stuhl. Sie spürte, dass etwas an ihren Kopf gedrückt wurde. Robert de Niro, dachte sie und meinte noch ein kurzes, scharfes Geräusch zu hören.
DIE MÄNNER
PAOLO
1. Kapitel
Paolo wohnte ganz oben in einem siebengeschossigen Haus im Stadtteil Pilastro und teilte sich ein Zimmer mit seiner sieben Jahre jüngeren Schwester Gina. Manchmal wurde er wütend auf sie, weil sie ihn mit ihren kindischen Fragen nicht in Ruhe ließ. Er tolerierte es jedoch nicht, dass irgendjemand gemein zu ihr war, und mehrmals hatte er sich mit älteren Jungen geprügelt, die ihr unten auf dem Hof ihre Spielsachen hatten wegnehmen wollen.
Paolos und Ginas Vater arbeitete in einer Ziegelei und kam nachmittags in einer Staubwolke nach Hause. Er sang unter der Dusche, und nach dem Essen verschwand er oft zu politischen Versammlungen. Ihre Mutter blieb abends fast immer zu Hause und kümmerte sich um sie, sie war jedoch keine Hausfrau. Sie saß an der Kasse eines Lebensmittelladens, der zwei Blocks entfernt lag. Nach der Schule ging Paolo oft in den Laden, um sich etwas Süßes geben zu lassen.
Vor dem Haus lag das Bahngleis, und wenn die Güterzüge vorbeifuhren, spürte man das unter den Füßen. Der Fußboden summte. Ihr Nachbar meinte, die Häuser
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