Der Geisterfahrer
den Stich mit essigsaurer Tonerde zu behandeln. Als Herr B. am nächsten Morgen den Arzt anrief, sagte dieser, er habe im Blut weder eine Vergiftung noch einen Virus entdeckt, man könne also damit rechnen, dass die Reizung in zwei, drei Tagen abgeklungen
sei. Herrn B. war dieser Bescheid sehr recht, denn sein Stich hatte sich während der Nacht noch mehr vergrößert und sah jetzt bereits aus wie ein Furunkel, hatte sich auch am oberen Rand bläulich verfärbt. Herr B. war jedoch um so mehr bereit, der Prognose des Arztes zu glauben, als ihn der Stich, abgesehen von einem gelegentlichen Juckreiz, überhaupt nicht schmerzte. Er trug nun einen richtigen Verband, der sich aber schon nach einigen Stunden so verschob, dass die Wölbung des Stiches zwischen den Bandagen herausragte. Am Abend hatte der Furunkel die Größe einer Geschwulst erreicht, und Herr B. sprach nochmals beim Arzt vor. Dabei ergab sich aber nichts Neues, spätestens in drei Tagen sei die Sache in Ordnung, sagte der Arzt. Zur Beruhigung von Herrn B. wolle er aber noch im Tropeninstitut nachfragen, ob Fälle von derartigen Insektenstichen bekannt seien. Erschwerend war der Umstand, dass Herr B. nicht mehr genau wusste, was für ein Tier ihn gestochen hatte. Eine Mücke, sagte er, eine Mücke müsse es gewesen sein, etwas größer als die hiesigen, aber eine Mücke.
Der Stich war zu dieser Zeit etwa faustgroß und lief oben nicht kegelförmig aus, sondern bildete um den Einstich herum einen Krater, dessen Rand schwarzviolett war. Die bläuliche Verfärbung vom Morgen lief jetzt wie eine Höhenkurve um diesen vulkanartigen Hügel, in dessen Trichter ein Eiterpfropf wucherte. Herr B. konnte in dieser Nacht nur schlecht schlafen. Zwar hatte er immer noch keine Schmerzen, musste aber aufpassen, dass er sich nicht auf die Geschwulst legte, und glaubte auch die ganze Nacht einen weit entfernten Lärm zu hören, der gerade
laut genug war, um ihn am wirklichen Einschlafen zu hindern.
Als Herr B. am andern Morgen aufstand, erschrak er. Seine Geschwulst hatte die Form eines Zuckerhutes angenommen und war von einer solchen Höhe, dass er sich damit am Kinn kratzen konnte, ohne die Hand zu heben. Die roten, bläulichen und schwarzvioletten Farbringe endeten nun in einer grünen Krone, und anscheinend war die Nacht über soviel Eiter und Wasser aus der Einstichfistel ausgeflossen, dass sich etwas wie eine klebrige Glasur über dem Ganzen gebildet hatte. Durch diese Glasur, und das erschreckte Herrn B. am meisten, sah man teilweise in die Geschwulst hinein, so wie man durch ein Fenster ins Innere eines Hauses blickt, und Herr B. nahm, wenn auch verschwommen, kleine krabblige Dinger wahr, die sich bewegten. Voll Ekel wandte er sich ab und wollte sich so weit wie möglich von diesem Anblick entfernen. Als er jedoch unter der Schlafzimmertür stand, wurde ihm klar, dass er die Geschwulst an seinem eigenen Arm trug, dass er sie also nicht in ein Zeitungspapier wickeln und wegwerfen konnte, dass sie einen Teil von ihm selbst bildete. Zugleich spürte er jetzt einen unbändigen Juckreiz, von dem er sofort wusste, dass er nicht zu befriedigen war, weil er tief unter seiner Haut lag, wo er sich niemals würde kratzen können. Er senkte sein Kinn auf die Brust und bewegte es heftig hin und her, er zog die Schultern hoch und krümmte den Oberkörper ein, er stellte sich mit dem Rücken an die Wand und rieb ihn daran, er hüpfte zuletzt mit gequälten Sätzen in die Küche, riss eine Gabel aus der Schublade und fuhr sich damit von oben bis unten über
die Geschwulst. Das schaffte eine kleine Erleichterung, aber sobald sich die weißen Geleise wieder mit Farbe gefüllt hatten, musste er die Prozedur wiederholen.
Dies wäre noch lange so weitergegangen, wäre ihm nicht plötzlich klargeworden, was das für ein Reiz war, der durch seinen Körper rieselte.
Diese Mücke musste Eier in seinen Arm gelegt haben, aus denen nun Junge schlüpften – er war also inwendig voller Mücken! Bei diesem Gedanken wünschte er sich, aus seiner Haut fahren zu können. Das Gefühl, seinen Körper nicht mehr für sich zu haben, sondern mit andern teilen zu müssen, mehr noch, zusammen mit diesen Insekten darin eingesperrt zu sein, erfüllte ihn mit einer Angst, die seinen Reiz sofort abtötete. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er um ein Taxi telefonieren und sich in die Praxis bringen lassen.
Auch der Arzt erschrak, als er Herrn B.s Stich in seinem jetzigen Zustand sah. Gerade hatte er
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