Der Geisterfahrer
ich jeweils meine Bilder ausstelle, bei der großen Frühlingsausstellung im »Salon des indépendants«, in der Hunderte von Bildern hängen, weißt du, wie du dort meine Bilder findest? Du musst einfach dem Gelächter nachgehen. Vor meinen Bildern stehen die Leute und lachen, sie lachen sich krumm! … Warum? Weil sie etwas ganz anderes sehen, als sie erwartet haben … Schau mal, das dicke Kind! rufen sie, und der große Hund, und die Repräsentanten in ihren Karnevalskleidern, und wie der Maler vor dem Modell hockt, als hätte er in die Hosen geschissen, und die Affen, wie doof die aus dem Urwald gucken! – Das soll Kunst sein? … – Tja, dann sage ich mir, entweder sind die Leute dumm oder ich. Und weißt du was? Ich tippe auf
die Leute … Erst wenn du ausgelacht wirst, merkst du, dass du ein Künstler bist – warum hustest du? … Geht’s wieder?
Also, Claude, wenn du deiner Zimmerpflanze nicht noch mehr Blätter machen willst, dann hätte es hinter der Mausefalle gut noch Platz für einen zweiten Topf mit einem andern Baum. Ich sag dir jetzt was: Gestern war ich auf dem Friedhof, bei meiner Joséphine, die seit vier Jahren dort daheim ist, und wenn es Herbst ist, wie jetzt, nehme ich ein paar farbige Blätter mit nach Hause, um sie zu studieren. Ich war nie auf einer Kunstakademie, dafür gehe ich immer noch zur Schule, musst du wissen, und meine Lehrerin ist die Natur. Als Künstler musst du auch Schüler sein, lebenslänglich, merk dir das. Hier sind die Blätter von gestern, jetzt schau sie alle an, lies dir eins aus und versuch es möglichst genau abzuzeichnen, ja? … Das hier? Schön, das ist von einer Eberesche, ein Fiederblatt, ein Stängelchen mit neun einzelnen spitzen Blättern, prächtig rot, das hast du gut ausgelesen …
Weißt du, dass ich diese Blätter gern brauche in meinen Urwaldbildern? Warum? Sie lockern das Bild auf und wirken trotzdem als Dickicht. Gleich werd ich noch eins in den Wald meiner Schlangenbeschwörerin hineinsetzen – wo? … Hier, hinter dem Schwanz der großen Schlange … Dann malen wir mal beide ein schönes Fiederblatt, meins ist grün, denn der Urwald kennt keinen Herbst, und für deins geb ich dir diesen roten Farbstift … Da hast du zu tun in der nächsten Stunde, bis du ein paar Blättchen zusammen hast, aber malen heißt Geduld haben … Das ist eigentlich das Schwerste an der Kunst, die Geduld. Ich
bin sehr ungeduldig, muss ich zugeben, ich bin so ungeduldig, dass ich manchmal in den Kleidern schlafe, damit ich keine Zeit zum Aus- und Anziehen verliere …
Man hat mir auch schon gesagt, diese Blätter und Blumen, die ich da male, gebe es gar nicht im Urwald, und was meinst du, was ich dann entgegne? »Waren Sie schon mal im mexikanischen Urwald?« ( lacht ) Dann sagen sie meistens nichts mehr, denn wer war schon im mexikanischen Urwald … Und willst du die Wahrheit wissen, mein Freund? Ich auch nicht. Weder in Mexiko noch im mexikanischen Urwald. Ich sage das bloß so, weil ich zu der Zeit in der Armee war, als diese auch in Mexiko kämpfte. Ein Glück für mich, dass ich nicht nach Mexiko musste, da haben viele ihr Leben verloren, zwei meiner Schulkollegen aus Laval, Jean-Philippe, der Sohn des Schmieds, und Pascal, dessen Vater Notar war … Der Dümmste und der Gescheiteste der Klasse, und beide hat es erwischt … Die Welt ist grausam, Claude, leider, und der Krieg ein Übel … Was ging es Jean-Philippe und Pascal an, ob in Mexiko ein europäischer Kaiser herrschen sollte? Und dann haben sie den Maximilian trotzdem erschossen … Ich glaube, die Könige haben nicht genug Phantasie, um sich auszumalen, was ein Krieg bedeutet… Wenn ein König Krieg führen will, müsste eine Mutter zu ihm gehen und es ihm verbieten …
Vielleicht könnten die Könige von uns lernen, die Phantasie gehört ja zu unserm Handwerkszeug, wie Farbe und Pinsel … Um einen Urwald zu malen, musst du nicht im Urwald gewesen sein … Das ist das Wunderbare an der Kunst: Im Kopf musst du ihn haben, den Urwald, im
Kopf – aber dann musst du ihn natürlich auf die Leinwand bringen …
Mir wird ganz heiß, Claude, wenn ich in meinem Urwald stehe, kannst du mal kurz das Fenster öffnen? … Danke, und was siehst du, wenn du zum Fenster hinausschaust? Den Bahnhof Montparnasse … Ist das nicht phantastisch? Draußen die moderne Zeit, ein Bahnhof, wo Züge ein- und ausfahren, Lokomotiven pfeifen und rauchen, und hier drinnen, bei uns Künstlern, ein
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