Der Geisterfahrer
Konservativer sein könnte, manchmal aber ebenso gut ein neugieriger, erfahrungshungriger Halbwüchsiger zu sein scheint, der uns durch die Liberalität seiner Standpunkte beflügelt. Dieser stille Mann! Ohne drastisch zu reden, kann er jemanden der Nichtigkeit im Gelächter aussetzen, kann er durch die Präzision eines Details erschrecken. Er sagt nicht: Dieser kleine Nestflüchter wurde von der Katze gefressen, er sagt »aufgefressen«, und wir wissen, dass die Bestie reinen Tisch gemacht hat.
(Und wenn ich noch etwas ganz Unsachliches anfügen darf, eine Vermutung bloß, dann muss Franz Hohler ein glücklich verheirateter Mann sein. Seine Paare sind so freundlich und duldsam miteinander, sie sind gemeinsam in die Jahre gekommen und auf milde Weise zugewandt. Es geht etwas Humanes aus von diesen Paaren, etwas Rührendes.
Man lese nur die wunderschöne Erzählung »Die Mönchsgrasmücke«. Oder? Doch das nur nebenbei.)
An Hohler, auch das ist eines Klassikers würdig, lässt sich die Größe des Einfachen lernen. Wie schlicht und doch wie eigen: Er besitzt Phantasie, samt einer präzisen Vorstellungsgabe und Kraft der Visualisierung. Außerdem ist er auf selbstverständliche Weise sachverständig in allem, worüber er schreibt. Sind es Vögel, ist er Ornithologe genug, ihre Rufe, ihre Formen der Brut und der Werbung zu kennen, sind es die Berglandschaft, das Militär, die Malerei von Henri Rousseau, so wird er sie nicht bloß so kennen, sondern auch in ihrer Tiefe, wo die Geschichten entspringen. Er folgt einfach der Überzeugung, dass sich das Phantastische im Wirklichen selbst entwickelt. Dazu muss man dies Wirkliche aber gut kennen, denn nichts Irrationales setzt sich gegen das Rationale durch. Es beginnt vielmehr, wo dieses endet.
Man denke allein an das, was man »Zufall« nennt. Einmal verändert ein mutmaßlicher Attentäter die Weltgeschichte nicht, weil ihm ein Glas Weißwein hinfällt. Einmal möchte jemand einen kleinen gelben Bleistiftstummel von der Straße auflesen. Doch was könnte passieren? Einmal hebt jemand tatsächlich ein in Metall gestanztes Velonümmerchen auf, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Manchmal ist dies das Unheil der Polizeigewalt, manchmal das der Bürokratie, des Bankenwesens. Immer aber werden der Bittsteller, der Geschädigte, der Antragsteller kujoniert, drangsaliert, zerrieben und gekränkt und müssen am Ende bereuen, der Nachtglocke, dem Impuls gefolgt zu sein, nachgegeben oder eine lässliche Sünde begangen zu haben.
Aus dem Unscheinbaren baut sich ein Schrecken auf, der uns alle bedroht. Oder, wie der Autor selbst sagt: »Geschichten haben die verschiedensten Ausgangspunkte. Eine zufällige Begegnung, ein falsches Wort, eine unüberlegte Tat, eine Verspätung können den Eintritt in ein Labyrinth bedeuten, aus dem fast nicht mehr herauszufinden ist, sie können ebenso gut ins Glück führen wie ins Unglück, sie können Menschen zusammenbringen und andere trennen, und wer in ihre wie immer gearteten Folgen hineingerät, wird oft über die Ursachen rätseln, ohne eine Antwort zu finden.«
Ja, eine junge Ärztin wird von einem Wallach zu einer Entbindung getragen und landet im Mittelalter. Ein Mann hört auf dem Bahnhof eine Lautsprecheransage für einen Zug nach Singapur, besteigt ihn. Ein anderer hat eine Geschwulst, aus der heraus es lärmt. Ein dritter findet auf dem Hochzeitsfoto seiner Eltern einen Mann, den niemand kennt. Wir erleben die Geschichte der Verselbständigung dieses Mannes, und immer ist da ein Poetisch-Werden der Welt, dort, wo sie unscharf, alogisch, phantastisch wird, wo sie im Medium der Angst, des Zweifels, des Verlangens erscheint und die Grenzen des Rationalen übersteigt, um wo anzukommen? In einem Zuwachs der Bilder, in einer Verdichtung der Stimmung, in einer Konzentration der Atmosphäre. Dies ist es, was in der antiken Kunstlehre als »aemulatio« bezeichnet wurde, eine Selbstüberbietung, die bei Hohler zu einem dauernden Anschwellen des Grotesken führt, bis jener Zustand erreicht ist, der Chaos heißt oder Apokalypse oder Welt am ersten Schöpfungstag, morgens.
Man erlebe nur in der Titelgeschichte den Einbruch des
Phantastischen in das technische Zeitalter. Man sieht es nicht ohne Behagen, wie dies Phantastische triumphiert. Wer aber jetzt glaubt, Franz Hohler habe mit der Wirklichkeit weniger im Sinn als mit den Phantasmagorien, lese dagegen den Einstieg zu »Das Halstuch«, und er befindet sich mitten im Realismus. Diese Erzählung
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