Der Geisterfahrer
seiner Jugendzeit nicht mehr getan hatte: Er ging zur Kirche. Die ganze Messe und sogar die Predigt hörte er sich im Knien an und spürte ein Gefühl der Erfüllung, wie er es bis jetzt nicht gekannt hatte. Bei der Stelle, wo sich der Pfarrer zu den Gläubigen wendet und mit ausgebreiteten Armen singt: Ite, missa est! ertönte aus Eriksons Unterleib ein hohes, durchdringendes Gelächter. Dieses Gelächter setzte nicht ab und ließ sich unmöglich überhören, mit Mühe wurde der Gottesdienst beendet, und die Kirchgänger, die mit den Augen den Urheber suchten, sahen, wie sich aus einer der hinteren Bänke ein bleicher, klein gewachsener Mann wand und mit zusammengepressten Lippen unablässig lachend durch das bereits offen stehende Hauptportal hinausrannte.
Am selben Tag, am 22. November 1963, schoss sich A. Erikson mit einer Pistole in den Bauch und starb wenige Stunden danach. Bei der Leichenöffnung wurde nach Aussage des Gerichtsarztes nichts gefunden, was das Vorhandensein einer inneren Stimme bestätigt oder erklärt hätte.
Die Fotografie
A ls ich vor einiger Zeit beim Durchblättern eines Fotoalbums auf ein Bild von der Hochzeit meiner Eltern stieß, verweilte ich etwas länger dabei. Ich wollte wissen, wen ich alles kannte, auch interessierte mich, da ich inzwischen selbst geheiratet hatte und bereits älter war als das Paar auf der Hochzeitsfotografie, ob mir die Eltern nun jünger vorkämen als ich mir selbst. Es war mir aber nicht möglich, die beiden so anzusehen, als ob sie mit mir nichts zu tun hätten, als ob sie nicht gerade die wären, die immer älter waren als ich, und wäre es mir gelungen, wären sie mir wohl trotzdem nicht richtig jung erschienen, da man der Kleidung der Abgebildeten und ihrem Gehaben ansah, dass sie in eine frühere Zeit gehörten, und Leuten, die in einer früheren Zeit jung waren, glaubt man zwar, dass sie eine Jugend hatten, aber nicht, dass sie tatsächlich jung waren.
Das Bild war vor der Kapelle aufgenommen, in der die Trauung stattgefunden hatte, und außer meinem Vater und meiner Mutter waren darauf meine vier Großeltern zu sehen, von denen jetzt nur noch zwei am Leben sind, sodann ein Urgroßvater, den ich nicht mehr gekannt habe und der äußerst unnahbar wirkte, die Schwester meines Vaters, bereits mit ihrem heutigen Mann, aber etwas unverbrauchter aussehend, und die zwei Brüder meiner
Mutter, der eine noch im Bubenalter, der andere in Offiziersuniform. Um diesen familiären Kern des Bildes gruppierten sich die weniger engen Verwandten wie die Geschwister der Großeltern, die ich nicht alle kannte, und nebst dem Pfarrer einige Freunde des Paares, die mir zum größten Teil fremd waren. Unter diesen übrigen Leuten fiel mir vor allem ein Mann auf, der ganz am Rand des Bildes auf einem Steinbänklein unter einem Baum saß und die Szene betrachtete, als ob er nicht ganz dazugehöre. Seine Augen waren dunkel und blickten sehr ernst, auf seinem Kopf sah man kein einziges Haar, und seine Hände waren auf einen Stock gestützt, der mit einem silbernen Knauf versehen war. Was mir zusätzlich auffiel, war, dass der Mann weiße Handschuhe trug, was auch in jener Zeit, soviel mir bekannt ist, ungebräuchlich war. Da ich mich nicht erinnerte, diesen Mann je im Zusammenhang mit meinen Eltern gesehen zu haben, nahm ich mir vor, meinen Vater gelegentlich nach ihm zu fragen.
Als ich ihn das nächste Mal zu Hause besuchte, schauten wir sein Album mit den Hochzeitsfotografien durch, aber auf all den Bildern vor der Kapelle war kein solcher Mann zu sehen, und mein Vater konnte sich auch an niemanden erinnern, auf den meine Beschreibung zugetroffen hätte. Wahrscheinlich, meinte er, sei es ein Passant gewesen, der zufällig vorbeigekommen sei und sich auf das Bänklein gesetzt habe, die Kapelle liege ja an einem schönen Ort, werde oft aufgesucht und sei auch das Ziel eines Wanderweges.
Mit dieser Erklärung war ich nicht zufrieden. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich der Mann
nur für die Dauer einer Aufnahme auf das Bänklein gesetzt hatte, zudem war er so festlich angezogen, dass er weder ein Wanderer noch ein Ausflügler sein konnte, und es schien mir auch, sein Blick enthalte mehr Teilnahme als der eines gänzlich Fremden.
Als ich dem Vater wenig später mein Bild zeigen konnte, war er sehr erstaunt, schüttelte den Kopf und sagte, nie, nie habe er diesen Mann gesehen und möge sich auch nicht erinnern, dass er ihn auf der Fotografie, die nun in meinem
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