Der Geisterfahrer
von Telegrammen und Anrufen mit Gratulationen, am Abend war die Stadt in festlicher Stimmung, es gab Freinacht, und in vielen Restaurants wurde gratis Bier ausgeschenkt.
Am andern Morgen musste der Flughafen gesperrt werden, weil auf der Kreuzung zwischen der Start- und der Landepiste ein halb aufgefressener Hirsch lag. Die Untersuchung ergab: es waren Wölfe.
Von da an begann man sich langsam darauf einzurichten, dass man diese Tiere möglicherweise nicht loswerden konnte, sondern irgendwie mit ihnen leben musste. Wo sie herkamen, wusste man nicht, sie wurden nirgends vermisst, und es wurde auch keine andere Stadt von ihnen heimgesucht, weder in der Schweiz noch sonstwo in Europa, Zürich war ganz allein betroffen, und niemand wusste warum.
Der erste Bär tauchte gegen das Frühjahr auf. Er lief durch die Bahnhofunterführung, welcher man den Namen Shopville gegeben hat, kippte alle Abfallkübel mit einem Prankenschlag um und durchschnupperte sie nach Essbarem. Die Leute flohen die Rolltreppen hoch oder drückten sich in die Eingänge der Geschäfte, und der Bär bediente sich ausgiebig an den Auslagen eines großen Comestiblesladens. Ein Angehöriger des Bahnhofbetriebsschutzes erschoss ihn von hinten, während er nach einer Melone griff, fast erstaunt sackte das Tier zu Boden und überrollte sich einmal, bevor es auf dem Bauch liegen blieb wie ein Bettvorleger.
Kurz danach hörte man, dass ein Bär im Engetunnel den Verkehr zum Stehen gebracht hatte und sich nachher sihlaufwärts davongemacht habe. So mussten wir uns, nachdem der letzte Bär vor mindestens 70 Jahren im Engadin gejagt wurde, wieder mit dem Leben der Bären beschäftigen und uns darauf gefasst machen, mitten in der Stadt einen anzutreffen. Sie waren weniger gefährlich als die Wölfe, traten auch nie in Rudeln auf, sondern trotteten meist als Einzelgänger durch die Straßen. Trotzdem war Vorsicht geboten, vor allem mit kleinen Kindern, und
auch die Bären wurden sofort zum Abschuss freigegeben. Auszurotten waren sie aber ebenfalls nicht.
Ihr Erscheinen wurde im Ganzen recht gelassen hingenommen, eine eigentliche Panik ging erst durch die Stadtbevölkerung, als auf dem Stauffacher ein älterer Mann beim Griff in einen Zeitungsständer von einer Kreuzotter in die Hand gebissen wurde und trotz sofortiger Behandlung am gleichen Tag starb. In derselben Woche kam es mehrmals vor, dass aus den Schließfächern am Bahnhof Giftschlangen hervor schossen und Leute zu beißen versuchten, die ihr Gepäck herausnehmen wollten. Aus dem Industriequartier hörte man von einer Italienerin, welche beim Öffnen des Brotbehälters eine Viper vorgefunden habe und beim Versuch, diese mit der Bratenschaufel zu töten, von ihr gebissen worden sei. Fast jedermann begann nun, unters Bett zu schauen, bevor er schlafen ging, wir schlugen auch immer zuerst die Bettdecke ganz auf, weil wir die Warnung gehört hatten, dass Schlangen warme Plätzchen bevorzugten. Im Kindergarten meines fünfjährigen Buben wurde eine Würfelnatter in der Spieltruhe gefunden, die vom Abwart sofort totgeschlagen wurde. Es stellte sich zwar nachher heraus, dass sie nicht giftig gewesen wäre, aber wir überlegten uns nun doch zum ersten Mal, ob wir die Kinder nicht zu meinem Bruder nach Olten bringen sollten. Viele Eltern nahmen ihre Kinder aus der Schule und brachten sie woanders hin, es zogen auch etliche Familien ganz weg, die Wohnungen in den umliegenden Städten wurden knapper als sie schon waren, und außerordentlich belegt waren bereits im April die Zeltplätze des ganzen Mittellandes.
Wir entschlossen uns dennoch zu bleiben, ich hörte zu dieser Zeit, dass der in der Schweiz bisher noch nie gesichtete Schlangenadler aufgetaucht sei, ein Raubvogel, der sich ausschließlich von Schlangen ernährt, und hoffte, dass er für einen Rückgang dieser neuen Bedrohung sorgen würde. Davon war aber nichts zu spüren, und es zeigte sich, dass bereits eine weitere Bedrohung über der Stadt lag, gegen die man noch machtloser war. Sie sah zuerst harmlos, fast erfreulich aus, aber bald wurde klar, dass gerade sie das eigentliche Ende bedeuten konnte.
Diese Bedrohung ging von den Pflanzen aus, und zwar vor allem von zwei Arten. Die erste Art war das Efeu, das plötzlich unheimlich schnell zu wachsen anfing. In einer einzigen Nacht konnte es aus einem Garten bis in die Straßenmitte vordringen, und wenn es am Morgen geschnitten wurde, war es am Abend schon wieder an den Trottoirrändern. Mit
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