Der Geisterfahrer
der Mitte des Wortes lauerte. Das Zentrum des Platzes bildete ein Baugehege, hinter dem ein mit Brettern verkleideter Sockel stand, neben dem Sockel sah man einen weiteren Bretterverschlag, aus dem oben ein traurig geneigter Marmorkopf herausschaute.
Auf der einen Seite wurde der Platz durch eine Kirche begrenzt, deren Turm eingerüstet war. Am Fuß des Gerüstes las man auf Kopfhöhe SPENDET FÜR DEN KIRCHTURM.
Die andere Seite, auf die der Cellist jetzt zuging, bestand aus einer Häuserfront mit Arkaden, die eigentlich den Eingang zur Altstadt bildete, und der Cellist bog in das erste Gässchen ein, das ins Dunkel der Stadt hineinführte. Er war noch nicht lange gegangen, hatte erst zwei, drei Querstraßen überschritten, und war immer wieder in das nächste Gässchen abgezweigt, als er plötzlich stehen blieb und die Erscheinung anstarrte, die auf ihn zukam.
Einen derart missgestalteten Menschen hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Die Füße waren gegeneinander gerichtet, das eine Bein schien ein verkehrtes Kniegelenk zu haben, jedenfalls stand der Oberschenkel weit ab, die Schultern waren verzerrt, der Kopf wuchs fast aus dem Brustbein, und die Arme wirkten viel zu lang, wie bei einem Affen. Mit der linken Hand hielt der Mann, dessen Anzug übrigens tadellos war, einen Stockknauf umklammert, mit der rechten tastete er sich der Wand des Gässchens nach, durch das er dahergeschlurft kam, und als er nun vor einer kleinen Treppe stand, die drei Schritte abwärts führte, fragte der Cellist, der vor dieser Treppe stand, unwillkürlich: »Soll ich Ihnen helfen?«
Der Blick, der ihn aus den Augen des Krüppels traf, hatte etwas unangenehm Körperliches, er blieb an ihm haften wie Farbe. Der Mund des andern, auch er seltsam verformt, wohl von einem Schlaganfall, öffnete sich langsam und gab schaudererregend gelbe Zähne frei. Dann warf das Männlein seinen Kopf nach hinten, so weit und leicht, als hätte er keine Halswirbel, und rief nach oben: »Maria, hast du gehört? Er will uns helfen!« Dann folgte ein längeres Gurgeln und Keuchen, das wohl ein Lachen war.
Der Cellist schaute auch nach oben, er merkte erst jetzt, wie hoch die Häuser waren, welche die Gassen bildeten, und dass etliche davon durch Torbogen miteinander verbunden waren, welche in der Verlängerung eine Wirkung hatten wie der Satz »Ich träumte, dass ich träumte, dass ich träumte«.
Und neben dem ersten Torbogen, in drei oder vier Stockwerken Höhe, schaute ein Frauenkopf zum Fenster
hinaus, der offensichtlich zu Maria gehörte, ein schöner Kopf, ein südlicher Kopf, ein junger, schöner, südlicher Frauenkopf, eingerahmt von schwarzen Haaren, in der Mitte gescheitelt und hinten geknotet, lebendige, dunkle Augen, die auf ihn, den Cellisten, gerichtet waren, wahrscheinlich schon vor dem Zuruf des Krüppels.
»Hier hinein!«, krächzte der Alte und schwang seinen Stock überraschend beweglich zu einer Türe, die schräg hinter ihm lag, »und dann hinauf!«
»Ich wollte Ihnen eigentlich nur die Treppe hinunter helfen«, sagte der Cellist.
»Sie wollten mir helfen«, sagte der Krüppel, »das ist schön, das ist sehr schön – und selten.« Dann rief er nach oben: »Maria! Er kommt!« und begann die Treppe hinunterzusteigen, indem er seinen verkehrten Fuß weit ausholend auf jede Stufe schwang und den Cellisten mit dem Kopf nochmals zur Türe wies, die er vorhin gezeigt hatte. Dieser dachte an den schönen Frauenkopf, der jetzt verschwunden war, und plötzlich hatte er Lust, da hinaufzugehen, wieso eigentlich nicht, sagte er sich, ich habe ja Zeit, wieso soll ich nicht hinaufgehen, wenn ich erwartet werde von einer solchen Maria, und er stieß die schwere Türe auf und befand sich in einem großen und lichten Innenhof mit einem offenen Treppenhaus, das in jedem Stockwerk in einen Bogengang mündete, welcher sich um den ganzen Innenhof herumzog. Fast wie ein Kloster, dachte der Cellist, oder wie ein Palast, und erinnerte sich an ähnliche Gebäude, in denen er schon musiziert hatte. Als er auf dem obersten Treppenabsatz angekommen war, öffnete sich am Ende des Bogenganges eine Türe, und
Maria winkte ihm wortlos. Er ging hin und trat ein. Maria schloss sie gleich hinter ihm zu.
»Mein Name ist –«, begann der Cellist, wurde aber von Maria sofort unterbrochen.
»Kein Name«, sagte sie, »das ist nicht wichtig.«
»Aber Sie sind Maria?«, fragte der Cellist.
»Ja«, sagte sie, »aber das ist auch nicht
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