Der Geisterfahrer
gewaltiger alter Baumstrunk am Horizont steht, gänzlich von Efeu umklammert, aus dem sich blau und weiß Clematis- und Knöterichblüten herausheben, neuerdings sind auch Kapuzinerchen dazugekommen, deren gelbe und rote Blüten man schon bis in den zehnten Stock hinauf verfolgen kann.
Es ist auch ruhig geworden vor meinem Fenster, die Baustelle für den neuen Migros-Markt ist verlassen, der Kranarm bewegt sich wie eine Riesenblume im Wind, die Trams haben ihren Betrieb abgebrochen, die nächste noch befahrbare Autostraße liegt beim Hallenbad draußen, das Haus gegenüber ist leer, und ich sitze da und denke darüber nach, ob es jetzt noch einen Sinn hat, die Stadt zu verlassen, oder ob das alles nur der Anfang von etwas ist, das sich von hier aus uneindämmbar ausbreiten wird.
Walther von der Vogelweide
D er Mann, dem wir auf den nächsten Seiten unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, erwachte an diesem Morgen früh und unausgeruht in einem Hotelzimmer in Bozen. Er war Cellist eines Streichquartetts, das am Abend zuvor in dieser Stadt ein Konzert gegeben hatte. Um 10.04 Uhr sollten sie mit dem TEE-Zug nach Innsbruck fahren. Als er die Armbanduhr vom Nachttischchen hob, seufzte er. Zwanzig vor sieben, und kaum Aussicht, wieder einzuschlafen. Es war immer dasselbe auf den Konzertreisen, man bekam zu wenig Schlaf. Es gab keine leisen Hotels, entweder war es der Straßenlärm oder das Badewasser des oberen Stockes oder der Schlüssel eines fremdländischen Zimmermädchens; jedenfalls geriet man nach ein paar Tagen mit Schlafen in einen unaufholbaren Rückstand.
Heute aber, als er die Vorhänge zur Seite schob und die Stadt im Morgendunst daliegen sah, mit ihren Kirchtürmen und Dächern vor den steilen Wäldern, da hatte er Lust, aufzustehen und einen Spaziergang zu machen. Seine Morgenmüdigkeit war sofort verschwunden, er öffnete das Fenster und machte eine ganz kleine Abfolge von Gymnastikübungen, die er sich täglich abverlangte, um seine Knochen knacken zu hören, dann duschte er sich, indem er die kleine Badeschaumpackung, welche auf dem Seifenhalter bereitlag, mit den Zähnen aufbiss, zog sich nachher
an, ging in den Frühstücksraum hinunter, der noch fast leer war, bis auf zwei italienische Geschäftsleute, die nur Kaffee tranken und rauchten, und frühstückte ohne besonderen Appetit und ohne besondere Ruhe. Seine Kollegen waren noch nicht da, und er wollte möglichst rasch auf seinen Stadtbummel. Er hatte mehr als zwei Stunden Zeit und freute sich darüber. Am Nachmittag des vorigen Tages war er nach der Probe noch ein bisschen durch die Stadt geschlendert und hatte sich außerordentlich angezogen gefühlt von diesen eigenartigen Gassen, von den Marktständen, an denen bald auf deutsch, bald auf italienisch verhandelt wurde, vom Fischladen, vor welchem im Freien zwei Marmortische standen, auf denen die Fische zerlegt wurden, als brächte man auf einem Altar ein Opfer dar, von den Häusern auch, zu denen manchmal Treppen hinaufführten, zu engen, gotischen Haustüren, die für bucklige Pförtner gemacht waren, von all den Erkern, oder von den Hausglocken, deren Züge außen am Haus bis vors oberste Fenster gingen, und Apotheken gabs, deren Verkaufsräume sich in unendliche Gewölbe zu verlängern schienen, mit Töpfen und Dosen, die in alter, verschnörkelter Schrift angeschrieben waren, überhaupt die Aufschriften, das Gemisch von Fleischhauer, Salumeria, Selcher, Pasticceria, Trafik und Sali e Tabacchi faszinierte ihn, so viele Sprachen man spreche, so viele Herzen habe man, hatte er einmal auf einem Abreißkalender gelesen, diese Stadt hatte also einen doppelten Herzschlag. Zugleich war sie irgendwie träger, man hatte das Gefühl, als seien die Häuser alle tief in den Boden gebaut, als sei die Erdanziehungskraft hier stärker als anderswo.
Er trat also hinaus, der Cellist, aus der Halle des Hotels Alpi, dessen Glastür er zuerst aufziehen statt aufstoßen wollte, und stand mitten im Morgenlärm, dem Geknatter von Kleinmotorrädern und Lieferwagen, das sich mit dem 7-Uhr-Läuten mehrerer Kirchtürme vermischte. Es war schwer, sich vorzustellen, dass auch nur ein einziger Bewohner dieser Stadt noch schlafen konnte.
Er folgte zuerst dem Sog der Einbahnstraße, die vor dem Hotel durchführte, ging dann, als diese nach rechts zum großen Busbahnhof abbog, geradeaus weiter und stand auf dem Platz, der den Namen Walther-Platz trug, mit diesem betonten th, das wie eine Falle für italienische Zungen in
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