Der Geisterfahrer
schauderte. Noch nie in seinem Leben hatte er dieses Wort gerufen, und er konnte fast nicht glauben, dass es jetzt am Platz war. Es blieb ärgerlich still danach. Ihm schien, die Vokale gäben zu wenig her, und beim nächsten Ruf schrie er wieder »Hallo!« mit einem langen A und einem langen O. Aber eine Antwort blieb auch jetzt aus.
Er hatte Durst. Die Rösti, die es in Sedrun zur Bratwurst gegeben hatte, war zu salzig gewesen. Ob irgendwo in der Nähe ein Bach zu hören war? Nein, nichts. Nur der Wind, unermüdlich. Neben ihm auf dem Absatz war eine Alpenrosenstaude, auf deren Blättern schon eine weiße Schicht lag. Baumberger beugte sich langsam vor und versuchte den Schnee von den Blättern zu schlürfen, aber es löschte den Durst nicht mehr als Bierschaum. Und wenn er nun die Nacht hier verbringen müsste? »Hallo!«, schrie er plötzlich und laut, »Hallo, Hilfe!« Keine Antwort. Er
durchsuchte mit der rechten Hand die Hosen- und Jackentaschen auf der rechten Seite sowie die linke Brusttasche, dann machte er dasselbe mit der linken Hand, was wegen des Schmerzes im Gelenk und der blutenden Wunde mühsamer war. In der Brusttasche seines Hemdes fand er einen Würfelzucker, den er aus dem Passrestaurant mitgenommen hatte. Er trank den Kaffee ohne Zucker, und jedes Mal nahm er den Zucker mit, der dazu serviert wurde. Wenn er zu Hause einem Besuch Kaffee anbot, stellte er einen großen runden Glasbehälter mit Zuckersäckchen und -päckchen hin. Seit seine Frau gestorben war, quoll das Glas fast über, trotzdem ließ er nicht von seiner Gewohnheit ab. Achtung, sagte er sich jetzt, Achtung, Baumberger, das ist also dein Proviant.
Nochmals nahm er sein Mobiltelefon hervor, nochmals wählte er die 117, nochmals behauptete das Gerät, es verbinde ihn mit 117, und nochmals verhöhnte es ihn mit der Aussage, es sei nur ein Notruf mögl. »Dreck«, stieß er hervor, »elender Dreck«, und dann brüllte er wütend »Hallo! Hilfe!« und zog auch das I und das E bis zur Atemlosigkeit in die Länge. Er mochte gar nicht hinhören, ob es eine Reaktion gab, und überlegte, ob er sich, um in die Nähe der Straße und damit in die Nähe einer Funkverbindung zu gelangen, nach links oder nach rechts zu bewegen hätte, und er musste sich eingestehen, dass er es nicht wusste. Das Beste würde sein, so lange nach oben zu gehen, bis er wieder beim Denkmal war, und dann die Fahrstraße zu suchen. Noch besser wäre es allerdings, das Wetter würde so aufklaren, dass er die Fahrstraße schon von hier aus sah. Wie er allerdings den äußerst abschüssigen
Schieferhang wieder hinaufkommen sollte, war ihm nicht klar, doch vielleicht war ja das Gelände auch unmittelbar unter ihm sanft auslaufend, sodass er ohne Risiko direkt absteigen könnte. Wenn nur erst einmal der Nebel weg wäre.
Aber der Nebel blieb. Und so blieb auch Baumberger dort, wo er war. Etwa alle fünf Minuten schrie er seinen Hilferuf ins graue Nichts, das ihn umgab und aus dem auch nicht das entfernteste Geräusch eines Motors drang. Mit dem Ruf wechselte er jeweils seine Stellung. Wenn er auf den Zweigen der Erle gesessen war, stand er auf, und wenn er gestanden war, setzte er sich. Im Stehen versuchte er seine Arme und Beine ständig leicht zu bewegen, während er im Sitzen nur die Finger aneinander rieb. Das Warten ermüdete ihn, und die Schmerzen an den Rippen und der Hand nahmen zu. Nie hätte er gedacht, dass es so lange schneien würde, der Wetterbericht hatte einfach von möglichen Niederschlägen gesprochen, statt die Leute zu warnen. Langsam verschwand das Grün des Grases und das Grau der Schieferrunse unter dem Weiß des Schnees. Wenn genügend Neuschnee lag, würde er eher besser bergauf gehen können als auf dem rutschigen Schiefer und dem nassen Gras. Als am späteren Nachmittag immer noch nicht auf seine Hilferufe reagiert wurde und der Schneefall nicht aufhörte, wurde Baumberger klar, dass er sich in ernsthafter Gefahr befand. Er war am ganzen Körper nass, es fror ihn erbärmlich, und in den Zehen des rechten Fußes hatte er das Gefühl verloren. Da beschloss er, einen Ausbruchversuch zu machen. Er schleckte seinen Zuckerwürfel langsam auf, um sich etwas zu stärken,
und ließ eine Hand voll Schnee im Mund zergehen. Dann brach er sich zwei Äste aus dem Erlenbusch ab, benutzte sie als Stöcke und begann Tritte in den Schnee zu stampfen, einen nach dem andern, und langsam den steilen Hang hinan zu steigen. Es ging besser, als er erwartet hatte.
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