Der Geisterfahrer
miserabel. Ein kleiner Pfad, dem er nun folgte, war wohl eher für das Vieh als für die Menschen gedacht, denn er führte nicht wirklich in die Höhe, sondern begann den Hügel zu umrunden, um nach einer Weile bei einem Tümpel zu enden. Eine Ruhebank stand davor, Baumberger sah in Gedanken die Fotos, die man hier bei sonnigem Wetter von einem Picknick machen konnte, der Tümpel wurde dann zum tiefblauen Bergseelein, in dem sich womöglich noch die Dreitausender im Hintergrund spiegelten, wenn der Fotograf tief genug in die Knie ging.
Wo war er? Ein Wind war aufgekommen und brachte den Hügel zum Singen, sonst hörte er nur die Regentropfen, die auf die Oberfläche des Tümpels und auf seine Lederjacke fielen. Da war das Geläute wieder, für einen Augenblick, und dann verstummte es. Ein Motor irgendwo aus der Tiefe, aber woher? Hinter der Bank ging es nochmals leicht bergan, dort musste doch wohl der Gipfel sein. Baumberger stellte sein Aktenköfferchen auf den Sitz und machte die oberen Knöpfe seiner Jacke zu. Dann packte er es wieder und ging mit entschlossenen Schritten durch den Nebel hinauf. Auf einmal fiel ein Windstoß
über ihn her und überschüttete ihn mit bösartigen Wassermengen. Baumberger duckte sich und versuchte sich mit der linken Hand etwas zu schützen. Er hatte keine Kopfbedeckung bei sich, und kleine Bächlein rannen nun aus seinem Bürstenschnitt über das Gesicht und in den Nacken. Er wischte sie mit dem Handrücken weg, und als er den Arm wieder sinken ließ, war er angekommen.
Da war es, das Denkmal, ein überlebensgroßes, düsteres Kreuz aus Granit, und auf dem Sockel war sein Name in Großbuchstaben eingemeißelt: BAUMBERGER. Kein Vorname, keine Jahreszahl, nur sein Name. Und auf dem untersten Sockelteil eine Inschrift: E MONTIBUS SALUS. Baumberger konnte kein Latein, und die Inschrift ärgerte ihn. Wenn etwas wichtig genug war für ein Denkmal, wieso konnte man es dann nicht auf deutsch hinschreiben? Ihm klang es seltsam fröhlich, hokus pokus montibus. Er schaute zum Kreuz hinauf, das bedrückend hoch war, und ging dann einmal um das Denkmal herum, in der Hoffnung, irgendwo eine erklärende Tafel zu finden über Baumbergers Ort des Absturzes oder des Triumphes, aber offenbar war man davon ausgegangen, dass jeder Besucher wusste, an wen das Kreuz erinnerte. An den berühmten Baumberger, nur er kannte ihn nicht. Zu Hause würde er dem sofort nachgehen, endlich konnte er das alte Schweizer Lexikon brauchen, das seine Frau in die Ehe gebracht hatte und das so viel Platz wegnahm. Der Wind stieß ihn so heftig in den Rücken, dass er sich einen Moment lang am Kreuz festhielt. Der Gesang des Hügels war in ein Geheul übergegangen.
Baumberger musste sofort zurück. Er machte ein paar Schritte den Berg hinab, ließ sich sozusagen vom Wind den Abhang hinunterbugsieren. Es war nicht die Richtung zum Tümpel, aber dieser lag nach seinem Gefühl ohnehin auf der falschen Seite des Gipfels, auf der vom Pass abgewandten. Wann war er zum letzten Mal in einen derartigen Nebel geraten? Und in einen solchen Sturmregen? Seine Schuhe hielten nicht dicht, er spürte die Nässe in den Socken. Wo war der Viehpfad, den er zu gewinnen hoffte? Da, gleich vor ihm. Er holte zu einem langen Tritt aus, glitt auf einem Grasbüschel aus und fiel auf seinen Steiß. Sogleich stand er wieder auf, nichts passiert, aber die feuchten Grasbüschel waren Fußfallen, der ganze Hügel war von Wind und Regen nach unten gekämmt. Also möglichst auf dem Pfad bleiben. Die linke Hand schmerzte ihn, mit ihr hatte er den Sturz abgedämpft. Eigentlich müsste er nun zum Skilift kommen, das wäre, dachte er, auch eine Möglichkeit, dem Lift zu folgen, der kürzeste Weg, und man konnte sich nicht verirren.
Plötzlich war das Läuten ganz nah, und er fragte sich, wie er es für Kapellenglocken gehalten haben konnte. Das Glöcklein hing einem Ziegenbock um den Hals, der zwischen den Pfeilern des Skilifts Gestalt annahm. Die Pupillen, aus denen ihn der Bock anstarrte, kamen Baumberger riesig vor, und als er an ihm vorbei auf der Spur talwärts gehen wollte, pfiff das Tier durch die Nüstern und machte zwei Schritte auf ihn zu. »Oho«, sagte Baumberger und hob seinen Aktenkoffer als Schild vor sich, »kommst du mir so?« Aber der Ziegenbock senkte seine großen Hörner und begann mit einem der Vorderhufe zu scharren,
und bei jeder seiner Bewegungen bimmelte seine Halsglocke mit. Baumberger gab den Gedanken auf, direkt in die Tiefe
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