Der Geisterfahrer
fragte, ob es Programme gebe, die den Kindern beibrächten, schneller zu sein.
Als sie alles aufgeschrieben und sich vorgenommen hatte, die Frage wegen des langsamen Kindes der Logopädin zu stellen, lehnte sie sich zurück, trank ihren Tee aus und stand dann auf, um zu Bett zu gehen. Da fiel ihr der Brief ein.
Sie ging zum Garderobeständer, griff in die Manteltasche, nahm den Brief heraus und legte ihn auf die Tischplatte unter die Lampe. Es war ein unverschlossenes, gefüttertes Couvert, die hintere Lasche war in den Umschlag hineingesteckt, und adressiert war er mit Schreibmaschine an das Kleiderhaus Seidenbaum, Löwenstraße 40, Zürich. Zürich war unterstrichen, und das »ü« war mit so viel Druck getippt worden, dass das Papier an dieser Stelle etwas eingerissen war. Die Postleitzahl fehlte, eine Briefmarke klebte nicht darauf, Absender war keiner angegeben. Fast etwas zaghaft öffnete sie den Umschlag, entfaltete einen Briefbogen aus sehr gutem Papier, auf dem nun der Absender aufgedruckt war, Isaac Feyn, Herren-Schneiderei, Gerhardstr. 6, Zürich, Tel. 36.457. Es handelte sich, das war sofort zu sehen, um eine Rechnung, und zwar für 20 gelieferte Leinen-Anzüge, Gr. 48, 50, 52, 54, das Stk. zu 111 Fr., was ein Total von Fr. 2220. – ergab, zahlbar mit beiliegendem Einzahlungsschein. Mit einer Büroklammer, deren Rost sich auf dem Papier abzeichnete, war ein alter grüner Einzahlungsschein angeheftet, und das Ausstellungsdatum der Rechnung war der 24. Juni 1938.
Nun stand die Lehrerin auf, holte ihren Mantel, griff mit der Hand in den Riss hinein, tastete das ganze Futter von innen ab, so weit es ging, und den Rest von außen. Kein Widerstand, kein Knistern, der Brief war das einzige Papier zwischen Mantel und Futter gewesen. Sie schaute das Kleidungsstück nochmals an, ein Markenprodukt, Giorgio Armani, es gab keinen Zweifel, dass er neu war, hergestellt in diesem Jahr, in Italy sogar, wie auf der Etikette zu lesen war, wie also kam dieser Brief da hinein?
Das musste, sagte sie sich, ein Werbegag sein, ein Gewinnspiel, bei dem nächstens verkündet werden würde, wer in seinem im Modehaus »Best of« an der Löwenstraße gekauften Mantel einen Brief aus dem Jahre 1938 finde, bekomme einen Einkaufsgutschein über 1938 Franken oder irgendetwas in dieser Art. Anders konnte sich Natalie Schaub den Fund nicht erklären, und sie beschloss, die nächsten Tage abzuwarten und aufmerksam Zeitung zu lesen und Radio zu hören.
Als aber auf keinem der beiden Lokalsender, die sie ab und zu einstellte und die ihre Musikprogramme mit örtlicher Werbung streckten, ein entsprechender Spot kam und auch im »Tagblatt«, der Gratiszeitung der Stadt, keine Spur einer solchen Aktion zu entdecken war, packte sie ihren Mantel, den sie noch nicht geflickt hatte, in die Plastiktragtasche des Modehauses, legte die Kaufquittung und den Brief dazu und fuhr an die Löwenstraße. Im Laden verlangte sie den Filialleiter, einen Herrn mittleren Alters mit leicht geröteten Wangen, zeigte ihm den Mantel mit der gerissenen Stelle samt dem Brief, den sie im Futter gefunden hatte, und fragte ihn, wie er sich dazu stelle. Der Mann war höchst erstaunt und sagte ihr das, was sie schon vermutet hatte, nämlich dass sie diese Mäntel fertig geliefert bekämen und hier nicht mehr bearbeiteten. Dass am Fabrikationsort in Italien jemand einen alten Brief aus Zürich hineingeschmuggelt haben sollte, könne er sich nicht vorstellen, und ob sie sicher sei, dass dieser sofort zum Vorschein gekommen sei und ihr nicht später in den Riss hineingesteckt worden sei, als Scherz vielleicht. Nun wurde die Lehrerin ungehalten und sagte, sie könne ihrer
eigenen Wahrnehmung sehr wohl trauen, und der Urheber des Scherzes, wenn es denn ein solcher sei, müsse eher auf der Seite des Modehauses und des Herstellers gesucht werden. Der Filialleiter entschuldigte sich, bat darum, den Brief behalten zu dürfen, damit er sich bei der Kleiderfabrik in Italien erkundigen könne und anerbot sich im Übrigen, den Riss im Futter ohne Kosten nähen zu lassen. Die Lehrerin händigte ihm eine Fotokopie des Briefes und des Umschlages aus, die sie vorsorglicherweise gemacht hatte, denn das Original wollte sie für sich behalten. Wenn sie den Mantel abholen käme, so der Filialleiter, werde er ihr Bescheid sagen, was bei seinen Nachforschungen herausgekommen sei.
Es erstaunte Natalie nicht, als ihr der Filialleiter wenige Tage später wortreich erläuterte, dass er sich genau
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