Der Geisterfahrer
zu stechen, und wollte mit vorsichtigen Schritten das Trassee überqueren, doch da kam der Bock auf ihn zu, und Baumberger rannte ein Stück in die Höhe, bis er sah, dass der Bock stehen blieb. »Ist jetzt gut?«, rief ihm Baumberger zu, fügte noch »Sauviech!« hinzu und schlug dann schräg am Abhang entlang die Richtung ein, in der er den Sattel mit dem Wegweiser vermutete. Bald, so rechnete er sich aus, musste er auf die Fahrstraße kommen, und auf ihr würde er dann bleiben ohne den Versuch weiterer Abkürzungen.
Sie war aber noch nirgends zu sehen, und schon wieder rutschte er aus, als er auf eine Alpenrosenstaude trat, diesmal fiel er auf seinen Aktenkoffer. Einen Augenblick blieb er liegen und schaute mit Ärger auf die Holzstängel der Alpenrosen, die er mit den Schuhen im Sturz geschält hatte. »Verdammt«, murmelte er, »verdammt noch mal!«, bevor er sich ächzend aufrappelte. Im Stehen wieder die kurze Prüfung, ob noch alles funktionierte: Außer dem schmerzenden Handgelenk war sein Körper in Ordnung. Allerdings drang ihm die Nässe langsam durch die Kleider auf die Haut, und als er auf seinen Koffer blickte, sah er, dass sich Schneeflocken darauf setzten, die sich sofort in Wasser verwandelten. Er blickte in die Höhe. Es schneite. Er blickte um sich. Es schneite aus dem grauen Nichts heraus, das ihn umgab und gegen das seine Augen keine Chance hatten. Wenigstens hatte der Wind etwas nachgelassen. Trotzdem fröstelte Baumberger, und, was schlimmer war, er wusste nicht mehr, wo er war. So
wie er glaubte gegangen zu sein, hätte er längst auf der Fahrstraße angelangt sein müssen, stattdessen sah er vor sich einen Geländebruch, der in eine schwarzglänzende Schieferrunse mündete. Hier war er auf gar keinen Fall heraufgekommen. Er blickte auf die Uhr. In fünf Minuten müsste er auf dem Parkplatz sein, wenn seine Zeitrechnung aufgehen sollte. Es war ihm klar, dass er das nicht mehr schaffen würde.
Er wusste nicht, wann er das letzte Mal zu spät zu einem Termin gekommen war, das musste Jahre her sein. Vielleicht, dachte er sich, war ich zu pünktlich, zu zuverlässig, vielleicht habe ich wieder einmal eine Verspätung zu gut, die ich jetzt einziehe wie Überstunden. Vielleicht, dachte er, vielleicht machen sie sich Sorgen um mich, wenn ich nicht rechtzeitig da bin. Um ihn, das merkte er plötzlich, um ihn machte sich niemand Sorgen. Seine jüngere Schwester etwa, die mit ihrem Mann ein Pflegeheim am Thunersee leitete? Manchmal verging ein halbes Jahr, bis sie wieder etwas voneinander hörten. Seine Tochter in Kanada? Er war es, der jeweils telefonierte, nicht sie. Vielleicht sollte er sie so lang nicht mehr anrufen, bis sie sich meldete, einfach um zu sehen, ob sie ihn vermisste. Ja, so wollte er es machen, wenn er wieder zu Hause war. Aber er war noch nicht zu Hause, er war auf einem Berghügel im Kanton Graubünden, den er nur schnell hatte besteigen wollen, und er hatte im Schnee und im Nebel die Orientierung verloren.
Es ist, sagte er sich, wichtig, jetzt klar zu denken. Das Erste war, seine Gesprächspartner in Andermatt zu benachrichtigen, dass er sich verspäten würde. Er öffnete
sein Aktenköfferchen, nahm den Ordner mit den Unterlagen heraus und schaute sich die Nummern der Beteiligten an. Am besten versuchte er es mit dem Mobiltelefon des Offiziers vom Festungswachtkorps. Er klemmte den Ordner unter den Arm, schloss das Köfferchen und stellte es neben sich auf ein Graspolster. Sofort glitt es weiter, schlitterte ein paar Meter hinunter und blieb in einem Erlengebüsch hängen. »Scheiße!«, entfuhr es Baumberger, und dann erinnerte er sich wieder an den Auftrag, den er sich selbst gegeben hatte, den Auftrag, klar zu denken. Zuerst kam der Anruf. Er merkte sich genau, wo sein Aktenkoffer lag, für den Fall, dass der Nebel noch dichter werden sollte. Dann zog er sein Handy aus der Lederjacke, schaltete es an und gab seinen Pincode ein. Sehr lange stand es nun auf »Suche«, und als es endlich einen Sender gefunden hatte, erschien das Kästchen »Nur Notruf mögl.!« Baumberger biss sich auf die Lippen. Auch das noch, ein Funkloch. Er dachte einen Moment nach und steckte das Handy wieder in die Innentasche seiner Jacke, ohne es auszuschalten. Über Notruf wollte er sich nicht in Andermatt abmelden, dieser Blamage wollte er sich keinesfalls aussetzen. Er war vielleicht in Schwierigkeiten, aber sicher nicht in Not, und er konnte schon nach wenigen Minuten wieder aus dem Funkloch heraus
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