Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
Vom Netzwerk:
Tatsächlich hatten seine Füße nun einen gewissen Halt. Baumberger war beglückt von der Aussicht, aus seiner Falle herauszukommen, und begann seine Schritte zu beschleunigen, so gut es ging. Keuchend steckte er seine Stöcke in den Schnee, aufwärts, sagte er sich, ich muss einfach aufwärts, bis zu meinem Denkmal.
    Als der Schnee auf einmal unter ihm nachgab und er seine ganze Spur wieder hinunterrutschte, konnte er sich auch auf dem Absatz nicht halten und schlitterte, sich überdrehend und auf Felsen aufschlagend, weiter hinunter, endlos lang, wie ihm schien, bis er von einem Tännchen aufgefangen wurde. Benommen blieb er auf dem Rücken liegen. Sein Kopf schmerzte, als sei ein fremdes Wesen in ihn eingedrungen. Er wollte sich aufrichten, aber irgendein unsichtbarer Riese drückte ihn nieder. Er begann zu weinen, haltlos. Dann rief er den Namen seiner Frau: »Annemarie!«
    Als er wieder erwachte, war der Nebel verschwunden. Der Vollmond war soeben aufgegangen und verbreitete sein blasses Licht. Baumberger sah sogleich, dass er nur wenige Meter von einer Fahrstraße entfernt war, und auf der Straße kamen langsam und fast lautlos zwei Scheinwerfer näher. Es gelang ihm überraschend gut, aufzustehen und die paar Schritte durch den Schnee zur Straße zu gehen. Ein Kleinbus fuhr auf ihn zu. Baumberger machte
ihm Zeichen, und der Wagen hielt an. Am Steuer saß eine Frau. Als Baumberger die Tür öffnete, um zu fragen, ob sie ihn mitnähme, erschrak er. Das konnte doch nicht sein.
    »Du?«, fragte er ungläubig, »du bist doch –«
    »Ja«, sagte sie, »da bin ich.«
    Baumberger suchte nach einem Grund, dass sie es nicht sein könne.
    »Du kannst doch gar nicht Auto fahren«, sagte er, »und ein Bus …«
    »Es ist der Montibus«, sagte sie lächelnd, »steig ein, Lieber, du hast sicher viel zu erzählen.«

Die Rechnung
    G eschichten haben die verschiedensten Ausgangspunkte. Eine zufällige Begegnung, ein falsches Wort, eine unüberlegte Tat, eine Verspätung können den Eintritt in ein Labyrinth bedeuten, aus dem fast nicht mehr herauszufinden ist, sie können ebenso gut ins Glück führen wie ins Unglück, sie können Menschen zusammenbringen und andere trennen, und wer in ihre wie immer gearteten Folgen hineingerät, wird oft über die Ursachen rätseln, ohne eine Antwort zu finden.
    Diese Geschichte fängt damit an, dass sich jemand beeilen musste.
    Es war eine Lehrerin, Natalie Schaub mit Namen, Anfang 30, und sie wollte zu einem Elternabend. Vom 1. Stock des alten Miethauses, das sie bewohnte, war sie schon zur Haustür hinuntergegangen und war dann nochmals umgekehrt, als sie gesehen hatte, dass draußen ein Schneeregen niederging. Oben hatte sie ihre leichte Jacke gegen den warmen, gefütterten Regenmantel eingewechselt, den sie vor wenigen Tagen gekauft hatte, um sich gegen die kommende kältere Jahreszeit zu wappnen. Sie hatte ihn noch nicht zugeknöpft, als sie schwungvoll ins Treppenhaus trat, und blieb mit der Innenseite an einer spitzen Verzierung des metallenen Geländers hängen. Etwas hielt sie zurück, sie hörte das Geräusch von aufreißendem Stoff, stand sofort
still und bückte sich, um das Futter vom Geländer zu lösen. Wie dumm, dachte sie, ein Triangel im neuen Mantel, aber wenigstens an der Innenseite, das würde sie nähen können, und wenn sie Glück hatte, fiel es nicht zu sehr auf. Dann sah sie etwas Eigenartiges. Hinter dem herunterhängenden Stofflappen des Futters schaute ein Stück Papier hervor, und als sie danach griff und es hervorzog, erwies es sich als ein Briefumschlag. Das kann ja nicht sein, dachte sie, während sie ihn kurz musterte und im schlecht beleuchteten Treppenhaus eine mit Schreibmaschine getippte Zürcher Adresse darauf las, aber da sie schon zu spät war, versorgte sie ihn in der Manteltasche und beschloss, ihn erst nach dem Elternabend zu öffnen.
    Nach dem Abend setzte sie sich mit einem Bergkräutertee an ihren Schreibtisch und machte sich ein paar Notizen zu dem, was besprochen worden war. Die Ansprüche der Eltern hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die einen wünschten sich mehr Prüfungen und mehr Noten, die andern beklagten sich über die vielen Hausaufgaben und das geringe Gewicht der kreativen Fächer, wieder andere wollten wissen, warum sie die Kinder so viel in Gruppen arbeiten lasse und ob es richtig sei, dass sie fast keine Schweizer Lieder mehr lernten, während zwei Kopftuchmütter überhaupt nichts sagten und eine Kolumbianerin

Weitere Kostenlose Bücher