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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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erkundigt habe, in welcher der lombardischen Kleiderfabriken dieser Mantel hergestellt worden sei, und dass er aus Mantua käme, von »Alberti«, das eigentlich eher ein großes Schneider-Atelier sei, das er persönlich schon auf einer seiner Einkaufstouren besucht habe. Auf seinen Anruf hin sei ihm hoch und heilig versichert worden, dass niemand jemals irgendetwas in ein Futter einnähen würde, geschweige denn einen alten Brief aus dem weit entfernten Zürich, und dass er auch in ihrer eigenen Schneiderei nachgefragt habe, ob etwa einer der »Armani«-Mäntel beschädigt angekommen sei und habe nachgenäht werden müssen, was jedoch mit Sicherheit auch nicht der Fall gewesen sei. Die Sache tue ihm leid und sei ihm ganz und gar unerklärlich, der Riss sei aber tadellos genäht, sodass niemand etwas sähe, und er hoffe, dass sie von dieser Geschichte
kein Aufhebens machen werde und dass ihr der Mantel trotzdem viel Freude bereite.
    Die Lehrerin bedankte sich, nahm die Tragtasche mit dem Mantel an sich und verließ den Laden etwas ratlos. Wieso war es dem Filialleiter wohl so wichtig, dass sie von der Geschichte kein Aufhebens machte? Als er das sagte, hatte sie das Gefühl, er wisse noch etwas mehr, wolle aber damit nicht herausrücken. Sie überquerte die Straße, um im gegenüberliegenden Center ein paar Dinge zu kaufen, und drehte sich nochmals um. Das Gebäude, in dem sich das Kleidergeschäft befand, war ein Neubau mit einer Fassade aus Beton und Metall. Am linken Rand, der an ein altes Haus angrenzte, haftete das blaue Schildchen mit der Straßennummer. Es war die 40.
    Als Natalie Schaub wieder zu Hause war, machte sie einen großen Milchkaffee, setzte sich an den Küchentisch und überlegte, was sie tun wollte. Das Einfachste wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen und nicht mehr weiter darüber nachzudenken. Kürzlich hatten sie im Lehrerzimmer über unerklärliche Ereignisse gesprochen, und es gab erstaunlich viele davon. Wenn das nächste Mal die Rede darauf käme, hätte sie wenigstens auch eines anzubieten, und schließlich ging sie die Rechnung persönlich nichts an. Trotzdem, da lag sie, wartete offenbar seit 66 Jahren auf ihre Bezahlung, und das Papier mit der rostigen Büroklammer strahlte so etwas wie Alterswürde aus. Sicher war der Schneider, wenn er damals nicht sehr jung gewesen war, schon längst gestorben.
    Eine andere Möglichkeit war, dass sie herauszufinden versuchte, wer genau Absender und Adressat gewesen waren.
Sie holte das Telefonbuch der Stadt Zürich und suchte den Namen Seidenbaum. Da gab es Seidenmanns, Seidenbergs und Seidenblumen, siehe Blumen, künstliche, aber keinen Seidenbaum. Auch der Name Feyn kam nicht vor. Also weder Nachfolger noch Nachkommen in der Stadt. Dann setzte sie sich an den Computer, öffnete das Internet und klickte das Telefonbuch der Schweiz an. Den Namen Seidenbaum gab es nur als Namen für Schulen und Restaurants und dergleichen, aber nicht als Personennamen, während es für Feyn überhaupt keinen Eintrag gab. Dann hatte sie die Idee, das y durch ein i zu ersetzen, und verlor angesichts der 450 Angaben, die nun erschienen, den Mut. Sie stellte das Gerät wieder ab und begann mit den Vorbereitungen zum Nachtessen, da sie zwei Freundinnen eingeladen hatte. Warum sollte sie überhaupt etwas herausfinden? Was hätte sie davon? Es war bestimmt am besten, keine Zeit mit einer aussichtslosen Suche zu verlieren, und immerhin konnte sie heute Abend eine schöne Geschichte erzählen.
    Sie sprachen dann aber von anderem, vor allem von ihren Freundschaften, denn alle drei hatten sie abgebrochene Beziehungen hinter sich, das gehörte zu dem, was sie verband, Natalie merkte, dass sie es absichtlich vermied, die Sache mit der Rechnung im Mantelfutter anzusteuern; etwas daran war ihr nicht geheuer, irgendwie wagte sie gar nicht zuzugeben, dass ihr solch eine Geschichte widerfahren war.
    Nicht mehr darüber nachdenken wollte sie, aber in den folgenden Tagen spürte sie, dass ihre Gedanken nichts anderes wollten, als über dieser Geschichte zu brüten. Den
Briefumschlag mit Inhalt hatte sie mittlerweile in eine Sichtmappe geschoben und in ihrer Hängeregistratur unter »Dokumente« abgelegt, dieses Wort, so schien ihr, kam ihm auf alle Fälle zu, eigentlich war es sogar ein historisches Dokument, das nun zwischen ihrem Lehrerinnenpatent und ihrem Pass steckte.
    Am nächsten freien Nachmittag betrat sie das Stadtarchiv. Sie hatte sich an einen Besuch während ihrer

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