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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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sein, schließlich war der Pass in der Nähe, und die Skiliftbergstation auch.
    Nun musste er seinen Aktenkoffer holen. Er nahm den Ordner mit den Unterlagen in die linke Hand, stellte sich parallel zum Abhang, hielt die rechte Hand bereit, um sich festhalten zu können, sollte er ausgleiten. Es hatte nicht aufgehört zu schneien, und schon lag eine feuchte
weiße Schicht auf Boden und Pflanzen. Behutsam setzte er Fuß vor Fuß und kam dem Erlengebüsch und seinem Koffer näher. Als er knapp davor stand und sich schon danach bücken wollte, hielt er inne, um die Situation noch einmal zu überprüfen. Es war ein Kriechbusch, auf dessen Gezweig sein Koffer lag, und zwischen den Erlenblättern hindurch konnte er eine nass glänzende Schieferhalde erkennen, die steil in die Tiefe ging. Aufpassen, Baumberger, einfach gut aufpassen. Er lehnte den Ordner an die dünnen Stämme. Dann kniete er nieder, fasste einen starken Erlenast, der in seine rechte Hand passte, vertraute ihm sein Gewicht an und angelte mit der linken Hand nach seinem Koffer. Sofort löste sich das Gebüsch aus dem weichen Boden, und Baumberger kollerte die Schieferhalde hinunter, ohne den Ast loszulassen, die Zweige des Buschs schletzten ihm ins Gesicht, er selbst überschlug sich zwei-oder dreimal, bis ihn ein kleiner Absatz auffing. Benommen blieb er liegen, und erst als er sicher war, dass der Absatz nicht nachgab, versuchte er sich aus dem Gestrüpp zu befreien und aufzurichten. Er bewegte seine Hände und Füße einzeln und hatte das Gefühl, sie seien alle noch zu gebrauchen. Der Schmerz im Handgelenk war geblieben, und als er sich jetzt aufstützte und seinen Oberkörper vom Boden erhob, spürte er einen Stich auf der linken Seite.
    Der erneute Versuch, klar über seine Lage nachzudenken, war niederschmetternd. Er saß in den Zweigen des Erlenstrauchs, der mit ihm den Hang hinuntergerutscht war, auf einem kleinen Absatz am Ende einer steilen Schieferrunse. Unter ihm war der Abhang genau so steil, wenn auch mit Gras bewachsen, mit Gras, auf dem sich
der Nassschnee festzusetzen begann. Wenige Meter um ihn verschwand alles im Nebel. Er wusste nicht einmal sicher, auf welcher Seite des Hügels er sich befand. Sein Aktenkoffer war nirgends zu sehen, auch der Ordner mit den Sitzungsunterlagen nicht. Zu hören war nichts, nichts als der Wind, der mit wechselnder Stärke dem Hang entlang strich. Oder hatte da jemand gerufen? Baumberger horchte ins Unbestimmte hinein. Dann schrie er, so laut er konnte: »Hallo!« Er erschrak zutiefst über die Lautstärke seines Schreis und darüber, dass er geschrien hatte. Niemand antwortete. Schon das Glöckchen des Geißbocks wäre ihm ein Trost gewesen.
    Er beschloss, sich nicht von dieser Stelle zu rühren, bis sich der Nebel lichten würde. Dieser Schneefall konnte ja nicht ewig dauern. Aber er fror. Er hatte geschwitzt beim Aufstieg, und nun drang die Kälte in ihn ein, über die nassen Füße, über die Hände, und auch über die Hüften, denn das Hemd und die Jacke waren ihm hoch gerutscht beim Sturz. Sorgfältig stopfte er das feuchte Hemd wieder in die Hose und sah, als er damit fertig war, dass seine Hände blutig waren. Er musste sich wohl geschürft haben. Erst als er nun sein Taschentuch hervorzog und die Handflächen damit reinigte, merkte er, wie diese ihn brannten. Ein tiefer Kratzer ging über die linke Hand, ein Schnitt fast, und mehrere Schürfspuren über die rechte. Er drückte das Taschentuch auf die Wunde. Dann zerknüllte er es, hielt es mit der linken Hand fest und tastete mit der rechten Hand die schmerzende Stelle an der Brust ab. Die untersten zwei Rippen reagierten heftig auf den kleinsten Druck. Möglicherweise waren sie gebrochen.

    Nun suchte Baumberger sein Handy in der Brusttasche. Zu seiner Erleichterung war es noch da, aber es zeigte ihm immer noch dasselbe Kästchen wie vorhin, »Nur Notruf mögl.!« Also, sagte er sich, also jetzt in Gottes Namen ein Notruf, tippte die Nummer 117 ein und drückte die YES-Taste. Im Kästchen erschien die Schrift »Verbinden 117« und gleich danach »Nur Notruf mögl.!« Er traute seinen Augen nicht. »Dies ist ein Notruf!«, schrie er sein Gerät an und wiederholte den Vorgang, aber er wusste schon, dass sich nichts ändern würde. Oft genug hatte er erfahren, dass ihm die Apparate der heutigen Zeit feindlich gesinnt waren und dass sie ihn schamlos belogen und betrogen.
    Vorsichtig atmete er tief ein und rief dann so laut er konnte: »Hilfe!« Er

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