Der Gerechte
fürsorglich wirkenden Geste über die Wange und lächelte.
Ja, er lächelte, und das konnte er auch, denn vor uns stand kein Geist, sondern ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut, was bei mir einige Überlegungen über den Haufen warf, denn ich hatte ihn als Geisterscheinung in Erinnerung, obwohl mir Janet etwas anderes berichtet hatte. Um sie kümmerte er sich nicht, Suko und ich waren für ihn interessant, und er kam auf uns zu.
Er sah schon ungewöhnlich aus in seiner dunklen Kleidung und dem dunklen Haar. Auf mich wirkte er wie ein Mensch, der sich noch im letzten Jahrhundert befand, denn der Mantel, den er trug, der war zur Biedermeierzeit modern gewesen.
Sein Gesicht war nicht gerade bleich, es hatte eine normale Tönung, nur die Augen sahen besonders dunkel aus, als bestünden die Pupillen aus Kohle.
Sein Mantel umwehte ihn wie ein Umhang. Um seinen Hals trug er ein weißes Tuch, das bis vor die Brust fiel und aus zahlreichen Rüschen bestand. Im Gegensatz zu der übrigen Kleidung schimmerte es in einem hellen Weiß. Sein Auftritt zeigte uns, wie sicher er sich in seinem Reich fühlte. Nervosität war ihm fremd.
Er gab mir auch eine Antwort auf die Frage. »Schließlich bin ich ein Mörder.«
»Das stimmt.«
Raniel blieb stehen. Seine Antwort war auch von Janet gehört worden. Sie hatte sich heftig erschreckt und wollte etwas sagen, aber Raniel winkte sofort ab. »Nein, du nicht.« Er wandte sich wieder an uns. »Sie erinnern sich an das Schneetreiben auf dem Gefängnishof, wo wir unsere erste Begegnung hatten?«
»Sehr gut sogar.«
»Da hatte ich Sie gewarnt. Sie sollten sich nicht in meine Angelegenheiten mischen.«
»Ich jage Mörder!«
»Mag sein, aber ich bin der Gerechte.«
»Recht sprechen die Gerichte!«
Er schaute uns an und ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann schüttelte er den Kopf, als er sagte: »Das Recht Ihrer Gerichte ist nicht das gleiche Recht wie meines. Es ist älter, sehr viel älter, und ich habe einen Menschen bestraft, der es verdiente. Wenig später rettete ich zahlreiche Kinder vor einem mörderischen Flammentod. Wollen Sie mich deshalb auch verhaften? Soll ich mich vor ein Gericht stellen, dessen Mitglieder beide Taten gegeneinander aufrechnen?« Er lächelte. »Ich habe die Menschen beobachten können, und ich habe erfahren, wie unvollkommen sie doch sind. Sie haben nichts dazugelernt. In all den Jahrtausenden sind sie nicht annähernd zu dem geworden, was ich gehofft hatte. Sie sollten nicht gottgleich werden, aber doch besser, als sie jetzt sind. Was passierte? Sie ersticken in ihrer Unvollkommenheit. Sie schaffen es nicht, ohne Gewalt und Krieg auszukommen, und wenn sie etwas richten, lassen sie der Ungerechtigkeit Vorrang.«
»Wie es mit Ihren Eltern geschah…«
»Ja, Sinclair, wie es damit geschah. Dieser Jeff Goldblatt hat Leben vernichtet, also muß auch sein Leben vernichtet werden. Das ist nicht mehr als gerecht.«
»Sagen Sie!«
»Dabei bleibe ich auch. Meine Eltern waren gute Menschen. Sie haben nur das Beste für mich gewollt.«
»Sind es Ihre Eltern?« fragte Suko sehr spontan. »Heißen Sie mit Nachnamen Almedos?«
»Sicher.«
»Wo sind Sie geboren?«
Über die Lippen des ›Gerechten‹ huschte ein flüchtiges Lächeln. »Ich bin da, das muß Ihnen reichen.«
»Wir wollen mehr wissen.«
»Es würde euch verunsichern.«
Suko blieb am Ball. »Das hörte sich an, als wäre deine Vergangenheit mehr ein Schattenspiel.«
»Nicht für mich.«
»Bist du ein Mensch?« Diesmal hatte ich die Frage gestellt, und ich wollte auch eine Antwort haben, denn daß er ein Mensch war, davon konnte mich sein Äußeres nicht unbedingt überzeugen. Auch Dämonen nahmen oft genug menschliche Gestalt an, und der Teufel ist dafür das beste Beispiel.
»Sehe ich nicht aus wie ein Mensch?«
»Stimmt. Nur – wie bist du in die Zelle gelangt? Wie kamst du in die Schule, ohne gesehen zu werden? Wie war das möglich?«
»Es ist mein Geheimnis. Euch möchte ich nur warnen und euch sagen, daß ihr immer daran denken sollt, daß ich der Gerechte bin. Ich bin derjenige, der erschienen ist, um abzurechnen. Ich werde die Ungerechtigkeit auf der Welt ausmerzen.«
»Ja, nach deinen Vorstellungen.«
»Nein, nach denen, die es im Alten Testament gibt. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
»Das gilt heute nicht mehr.«
»Für mich schon. Und ich will keinen kennen, der versucht, meine Aufgabe zu vereiteln. Wer das tut, ist mein Feind. Ich werde all diejenigen jagen, die es
Weitere Kostenlose Bücher