Der Geruch von Blut Thriller
Während Finn im Klassenzimmer seine Sachen einsammelt, hört er Murphy unten Geräte über den Kiesweg schleppen, zur Vorbereitung auf den Schneesturm.
Im letzten Jahr hatte Murphy um seinen Geburtstag herum Heimweh bekommen und beschlossen, sich mit Finn zusammen zu besaufen. Sie verbrachten den Abend bei Murphy und tranken Jameson, und Finn stellte fest, dass betrunkene Iren tatsächlich anfangen, wehmütige alte Lieder wie »Kathleen« zu singen. Murphy trank dreimal so viel wie Finn, wurde immer lauter und körperlicher, klopfte Finn auf die Schulter und tanzte durchs Wohnzimmer.
Irgendwann gestand er, mit ein paar der jungen Dingern herumgemacht zu haben. Er nannte sich einen Verdammt’n Idiot’n und versuchte dabei, beschämt und nachdenklich zu klingen. Finn hatte das Gefühl, dass Murphy log, um ihn zu beeindrucken, und damit er vielleicht seine eigenen Sünden beichtete. Am nächsten Tag behauptete Murphy, sich an einen Großteil des Abends nicht zu erinnern. Vielleicht stimmte das, aber Finn war seitdem ein wenig vorsichtig ihm gegenüber.
Er zieht sich seinen Mantel über und macht sich auf den Weg durch die leeren Flure. Das einzige Geräusch ist das nervige Klopfen seines Gehstocks. Für Finn ist es, als käme es von jemand anderem, und er regt sich mehr und mehr über diesen jemand auf. Die Stille im Haus
macht ihm Angst. Er ist komplett abhängig von Geräuschen.
Judiths Tür steht offen. Bevor er klopfen kann, sagt sie: »Hallo, Finn. Sie sollten es mit dem Kölnischwasser nicht übertreiben, mein Lieber.«
Ihre Lippen sind feucht. Er hört das am leise saugenden Schnalzen, wenn sie den Mund öffnet. Sie steht am Fenster und dreht an der Anlage die CD von Mahler leiser. Sie raucht 120er Mentholzigaretten, aber in ihrem Büro ist kaum etwas davon zu riechen. Sie ist wie ein Teenager, der heimlich Zigaretten von den Eltern klaut und den Rauch aus dem Fenster bläst.
Er weiß, dass sie reden will. Sie will fast immer reden, das war von Anfang an so, auch vor der Sache mit Vi.
»Judith, gut, dass ich dich noch treffe.«
»Keine Sorge«, sagt sie. Er merkt gleich, dass sie deprimiert ist, und nicht nur, weil ein leerer Campus jeden deprimiert.
»Nein? Warum nicht?«
Er sollte das nicht fragen, aber sie will es nicht anders. Er muss seine Rolle spielen. Manchmal spielt man eine Rolle, und manchmal spielt die Rolle einen.
Judith Perry ist Dekanin von St. Val’s, ein Verwaltungsgenie und eine erstklassige Lehrerin der Naturwissenschaften. Im viktorianischen Zeitalter hätte man sie eine Anstaltsleiterin genannt und sie für ihre Härte und ihre Würde bewundert. Die Mädchen glauben, sie sei so streng und fordernd, weil sie verklemmt und unglücklich sei. Finn glaubt, dass sie nicht ganz Unrecht haben. Judiths Stimme klingt wie die einer peniblen, scharfsinnigen Frau, die aus Wehmut hin und wieder weich wird. Sie macht kurze feste Schritte. Er hat ihr nur ein einziges
Mal die Hand geschüttelt, bei ihrem Einstellungsgespräch vor drei Jahren.
Seit er nicht mehr sehen kann, giert sein Gehirn nach Details. Wenn die anderen Sinne sie nicht liefern, ergänzt es sie selbst. Die Ärzte haben ihm erklärt, das sei normal. Die Psychoheinis sagen, er solle sich keine Sorgen machen, das sei normal. Aber es fühlt sich verdammt nochmal nicht normal an. Wenn er Judith begegnet, sieht er seine Mutter. Das ist gleichzeitig komisch und beruhigend. Er muss aufpassen, dass er sich nicht zu sehr darauf einlässt und sie am Ende Mama nennt.
Judith teilt einige Charakterzüge und Lebensumstände mit seiner Mutter. Sie ist zweimal geschieden, mit der dritten Ehe geht es bergab, und sie hat ein undankbares erwachsenes Kind. Sie ist wahrscheinlich manisch-depressiv. Sie hatte mehrere - wie sie glaubt, heimliche - Affären, die aber jedem bekannt sind, der auch nur ein bisschen die Augen aufhält. Judith hält sich für dick, ist aber nur kräftig gebaut. Wenn man sie am Arm anfasst, spürt man, wie stark sie ist. Man will sich nicht mit ihr im Schlamm herumwälzen, aber im Bett ist sie vielleicht gar keine schlechte Partie.
Mit ihrer Kraft scheint sie allerdings nichts anfangen zu können. Sie wäre lieber zart und anmutig, ein ausgehungerter Strich in der Landschaft, hinter dem alle Männer her sind. Sie benutzt zu viel Parfüm, Haarspray und Badezusätze, um femininer zu wirken. Sie weiß nicht, wie man lacht. Sie hat einen grauenhaften Humor und ist unglaublich schnell eingeschnappt.
Wenn sie so wie jetzt
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