Der Gesang der Haut - Roman
lächelt ironisch, ein letztes Miauen des Instruments, und das war’s. Sie hatte in ihrer Jugend Bandoneon gespielt. Ihr bescheidenes Auflehnen gegen die unkultivierte Lebensweise ihrer Eltern.
Sie sortierte die Zeitschriften, eine abendliche Routine, warf die alten und abgewetzten weg, legte neue dazu, dachte, wenn der Nachfolger Herr Weber einzieht, dann sind sie sowieso alle veraltet. Wieso habe ich vergessen, sie abzubestellen? Sie warf einen Blick in eine neue Elle, Frauenporträts, sublime Gesichter, hochstilisierte Kleider, nackte Rücken, deren makellose Haut von silbernen Trägern wie ein Geschenk geschnürt wurde, irreale Frauen, die beim Durchblättern zu einer einheitlichen Fassade, einer einzigen Figur verschmolzen wie die Geliebten ihres Mannes; ein gemeinsames, nach dem klassischen Schönheitskanon modelliertes Gesicht boten sie an, mit zwei normierten Wangen zum Ohrfeigen, ideale Ohren zum Ziehen, ein langer Hals zum Würgen, falls Henrietta eine eifersüchtige Harpyie gewesen wäre. Gelackte Puppen, mit denen ein Mann sich brüsten kann, gekaufte Engel mit glatten Schenkeln, deren eingeölte Scheiden offen standen, damit alte Jungen ihre Gier nach Spiel und Selbstbestätigung befriedigen konnten. Hitzewallungen. Sie ging ans Fenster, atmete die abendliche Luft tief ein und zauberte für sich eine andere Henrietta hervor, ein neues Bild ihrer geheimen Sammlung, die Sammlung des Nichterlebten, bunt gewebte Lebensstücke der Sehnsucht, die plötzlich erblühten wie diese Überraschungsblumen, die man in Bastelheften für Kinder finden kann; man taucht so ein trockenes Ding ins Wasser und – sieh mal da – es entsteht eine Tropenblume, deren Blätter sich langsam öffnen, ganz zerknittert noch, nehmen sie Farbe und Form an. Jetzt lächelte gerade eine Henrietta ohne bitteren Zug um die Lippen, eine schicke Arztfrau, die die beste Gesellschaft der Stadt zur Pensionierungsfeier ihres Mannes einlädt und jeden Satz rhythmisch mit dem Klappern ihrer Stöckelschuhe begleitet. Ja, wir haben viele Pläne, Reisen selbstverständlich, ich träume seit Langem von Peru und seinen Schätzen. Mein Bandoneon will ich aus der Verbannung holen. Wir lassen das Haus renovieren, frische Tapeten, neue Küche. Die Sachen sind älter als unsere Tochter. Den Swimmingpool haben wir verrotten lassen, der wird jetzt saniert. Einen Gärtner müssen wir bestellen, er wird mit uns zusammen die Anlage pflegen, alte Bäume fällen, neue Büsche pflanzen, ach, ich weiß ja gar nicht, womit wir anfangen sollen, sagt sie mit einem entzückten Lächeln und stellt sich den Rhododendron vor, der im Frühjahr, sehr bald, seine lila Blüten sprießen lassen wird, und wir wollen zur Pensionierung eine schöne Gartenparty geben. Ich will wieder ein paar Stücke auf dem Bandoneon üben. Sie hört das melodische Lachen einer Freundin, aber Liebste, ich wusste ja gar nicht, dass Sie – wie heißt das noch? – Bandoneon spielen. Ist es so was wie ein Akkordeon? Handharmonika könnte man es auch nennen, ja, sagt Henrietta und lacht ein launisches Lachen, Sie können auch Schifferklavier dazu sagen. Mein Mann? Ach, der hat keine Langweile. Er wird öfter Golf spielen, sein Lieblingssport, er denkt auch daran, drei Monate im Jahr in Afrika bei Ärzte ohne Grenzen zu helfen, ja das hat er sich schon immer versprochen, wenn ich Rentner werde, tue ich etwas Gutes, und dort werden pensionierte rüstige Ärzte gebraucht, aber nein, ich habe keine Angst, wovor denn, ich werde auf jeden Fall mitfahren. Wir haben Pläne, große Pläne, große Pläne. Ich beneide Sie, sagt die Freundin, es hört sich alles wunderbar an.
Alles muss neu erfunden werden, rief sie und rieb sich am Ellbogen. Wir müssen kämpfen. Ich bin kein Improvisationstalent, sagte sie und kratzte sich am Hals. Ich bin eine Frau der Alltagsroutine, keine Erfinderin. Die Zukunft muss ich in den Griff bekommen. Was für ein Ausdruck, in den Griff bekommen, ich muss mein ganzes Leben umstülpen. Nachdenken, Entscheidungen für die Zukunft treffen, ja. Gibt es eine Zukunft, die nicht aussieht wie eine immer schlechtere Fortsetzung der Gegenwart? Ich bekomme Kopfweh, wenn ich daran denke. Wenn man nicht von Kronos gefressen werden will, muss man ein Leben lang weiße Steinchen hinter sich streuen, Steinchen als Markierungen des täglich gesetzten Zeichens. Punkt, Punkt, Punkt. Und weiter so. Regelmäßigkeit hält die Zeit und mich mit bunten Gummis zusammen. Solange ich nachts die Decke bis
Weitere Kostenlose Bücher