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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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Geschmack?
    Viktor sah sich das Wartezimmer an, in dem acht bis zehn Stühle standen, deren grüner Plastikbelag müde schimmerte. Die sind nie alle besetzt, meinte Frau Gerlach, unsere Patienten kommen selten ohne Anmeldung. An der Wand erinnerte eine bekannte Abbildung der menschlichen Haut an eine japanische Zeichnung. Die Dermis wellte sich wie verschneite Gipfelspitzen im punktierten Himmel der pastellblauen Epidermis. Die Subkutis lag als weißes Geröll am Fuß des Berges. Haarfollikel bohrten sich ihren Weg in den Talgdrüsen und stellten den Laien vor das Rätsel ihrer spitzen Pflanzung. Schweißdrüsen glänzten metallisch in einer Ecke des Bildes, unappetitlich wie ein Haufen Blindschleichen. Viktor durchzuckte der Gedanke an seinen Freund Leo, mit dem er in Japan auf den Fujiyama gestiegen war. Die beiden hatten jetzt vor, auch den Kilimandscharo gemeinsam zu erobern. Aber wenn er die Praxis kaufte, musste er erst einmal sparen und arbeiten.
    Es gab auch einen Blumenkalender aus der Apotheke. Ein kleiner Rahmen aus rotem Plastik umrahmte den 30. November. Daneben zwei Plakate über Hautkrankheiten, Psoriasis-Schuppenflechte, Hautkrebs in verschiedenen Stadien. Er würde das Ganze zum Papiercontainer bringen, falls die Gerlachs dies nicht selbst abräumten. Zwei Tischchen mit Zeitschriften in ihren grauen Schutzhüllen. Die letzte Leserin hatte ihr Horoskop konsultiert. Viktor war versucht, einen Blick auf sein Zeichen zu werfen, Fisch, erste Dekade, hörte das spöttische Lachen seines Vaters und nahm sogar das Augenzwinkern von Klara wahr: Schau, unser beider Horoskop, Viktor. Er hob die Augen zur Decke, sah zwei Risse, die sich in die weiße Farbe eingraviert hatten. Einen frischen Anstrich, sagte Frau Gerlach, viel mehr braucht man hier nicht zu machen. Das Gebäude ist vor fünf Jahren saniert worden, die Heizung ist so gut wie neu.
    Neben dem Fenster fiel ihm eine weitere Nahaufnahme menschlicher Haut auf: Eine gelbrosa Sahara-Wüste glänzte rahmenlos, pikiert von trockenen Gräsern. Alle Poren bildeten die Zentren von Sternen, alle Sterne zusammen ein glänzendes Universum, das ihn seit seiner Studienzeit faszinierte.
    Es roch nach Schweiß, nach schwerem Atem. Frau Gerlach streckte die Hand zum Fenstergriff und hielt inne, als fragte sie sich, ob es sich lohne, noch zu lüften. Sie entschied sich, das Fenster zu kippen. In Anoraks eingehüllte Mädchen spielten Fangen auf dem Bürgersteig. Sie sangen einen Abzählreim: Und bleibt mein Finger stehen, muss du gehen.
    Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ein Wasser vielleicht? In der Diele stand ein Wasserspender mit Plastikbechern. Gern, ein Wasser.
    Viktor hielt einen gerillten Plastikbecher und hörte Frau Gerlach, die ihn über seine Fahrt hierher befragte. Die Worte verschwammen im Motorlärm eines Mopeds, das vorbeidonnerte, ohne dass die Frau die Stimme hob. Der Small Talk langweilte sie sichtbar. Er trank schnell aus und wusste nicht, wohin mit dem Becher, setzte ihn schließlich auf die Empfangstheke.
    Man hörte Schritte und sich nähernde Stimmen. Als Viktor sich umdrehte, erblickte er einen kräftigen Mann in weißem Kittel, der ihm den Rücken zudrehte und seinen Arm heftig auf- und abbewegte. Erst als Doktor Gerlach den Kopf nach links neigte und seine ganze Silhouette ein bisschen nach rechts rückte, sah Viktor, dass der Mann einer Frau zum Abschied die Hand schüttelte. Dann hörte er ihre Stimme, die dem Arzt alles, wirklich alles Gute für seinen neuen Lebensabschnitt wünschte. Wir werden Sie vermissen, Doktor Gerlach, sagte die Frau noch, die anscheinend Schwierigkeiten hatte, ihre Hand zu befreien, und mit einem ausländischen Akzent sprach. Wir machen zu meiner Pensionierung ein großes Fest, Sie sind eingeladen!, antwortete der Arzt. Viktor sah Schweißperlen auf der kahlen Stelle seines Kopfes. Der weiße Kittel spannte sich um die Schultern. Über alles Weitere sprechen wir privat, ich habe bald viel Zeit für Sie. Ein alter Mann, der noch begeisterungsfähig ist, dachte Viktor. Die Frau, von der man nur die Stimme gehört hatte, glitt an den Umrissen des Arztes vorbei, schien sich von ihm zu lösen. Sie drehte sich in der geöffneten Eingangstür noch einmal um und machte ein Zeichen mit der Hand. Sie war klein und schwarz.
    Das war’s für heute, sagte Gerlach, geschafft! Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ein kalter Luftzug zog ihre Blicke zur Tür. Schnee wirbelte auf den Asphalt, dicke weiße Flocken hatten

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