Der Gesang der Haut - Roman
zum Kinn meines schlafenden Mannes hochziehe, bevor ich mich am äußersten Rand des Bettes umdrehe, solange ich dieselbe Morgengymnastik mache, täglich den Briefträger grüße, ändere ich mich nicht, und dein lächerliches Schubsen, Kronos, wird mich nicht stolpern lassen.
Die Kälte biss in ihr fahles Gesicht. Sie schloss das Fenster. Im Herzen zwickte doch eine Gewissheit, die ihren Mut unterminierte: Mein Leben verdunstet, es bleibt ein Schnapsglas voll zurück. Mich jucken beide Waden, ob Gert schon alle Ärztemuster gegen diese Kratzeritis aus dem Medikamentenschrank weggeräumt hat? Der Vertreter von Roche war doch letzte Woche da. Und die Kopfschmerztabletten? Meine Traumreisen flattern in mich hinein und sterben wie die Fliegen. Die Gegenwart hüllt mich ein, schwarz wie eine Burka, meine Sicht zur Zukunft eingeengt.
Sie hörte ihren Mann gar nicht mehr, obwohl alle Türen offen standen, und ging ins Sprechzimmer. Ihr Gert stand leicht gebückt und mit vorgestreckten Händen vor dem großen Wandschrank, als wollte er einen Kopfsprung hinein machen, schaute mit zusammengekniffenen Adleraugen und sagte: Ich weiß nicht mehr, was ich da suchte.
Freut mich, dass auch du ein bisschen durcheinander bist. Übrigens, eine Birne im Kronleuchter des Wartezimmers muss gewechselt werden.
Silvia und Marion kommen nächste Woche und helfen.
Sie lehnte sich an seinen Rücken und umarmte ihn fest. Dabei klammerte sich ihre rechte Hand an ihre linke, er reagierte nicht, ein Block. Sie dachte: Ich sollte ihn in diesen Schrank stoßen, zumachen, den Schlüssel mitnehmen, es würde nichts mehr geschehen, ich würde verreisen, Südamerika vielleicht.
Gert, sagte sie, freust du dich, dass alles so gut und so schnell geklappt hat? Der junge Mann macht einen hervorragenden Eindruck, nicht wahr?
Hoffentlich ist er auch ein hervorragender Arzt.
Das wird sich zeigen.
Er drehte ihr leicht den Kopf zu: Ich werde ihm zur Seite stehen, falls Probleme auftauchen. Ich kann ihn auch vertreten, wenn er Urlaub macht.
Wenn du einmal raus bist, solltest du nicht zurückkommen.
Ich werde dich nicht fragen.
Ach, Gert!
Er ahmte sie mit schwacher Stimme nach: Ach, Gert! Und bestimmter: Meine liebe Henrietta, das Motto »loslassen« solltest auch du verinnerlichen. Sie lockerte ihre Umklammerung. Er kicherte ein einsames Kichern und zeigte dabei sein noch intaktes Gebiss.
Dann lass uns jetzt nach Hause gehen, flüsterte sie.
3
K urz vor Weihnachten kam Viktor aus Königstein wieder, wo er mit Klara und nicht weit von seinen Eltern wohnte. Er hatte seine letzten Wochen in der Dermatologie in Stuttgart absolviert, seine letzte Operation betraf einen Patienten mit Acne inversa. Er konnte Haut und Unterhautfettgewebe operativ entfernen und die gesunde Haut erfolgreich zusammennähen. Der Chefarzt, die Assistenten und später der Patient gratulierten. Als er ging, bekam er Blumen und Küsse von den Krankenschwestern und Kolleginnen. Er bereute schon, dass er in seiner neuen Praxis nur harmlose Eingriffe vornehmen würde. Aber Herr seiner Zeit zu sein, keinen Professor hofieren zu müssen, um weiter nach oben zu gelangen, das war ein befreiendes Gefühl. Viktor war im Grunde ein Einzelgänger, er schätzte die Kollegen, aber Teamarbeit lag ihm weniger. Schon als Kind hatte er besser atmen können, wenn er allein für sich spielen oder lernen konnte.
Doktor Gerlach und er hatten am Nachmittag nach Zustimmung des Zulassungsausschusses beim Notar den Kaufvertrag unterschrieben. Als Gerlach die Füllfeder in die Hand nahm, richtete Viktors Blick sich auf dessen Handrücken: Altersflecken nisteten in der schwarzen Behaarung. Die Haut rollte sich wulstartig an den Fingergelenken, mehrfach von Hautringen umgeben. Viktor sah die Hände seines Vaters und die seines Großvaters , beide Allgemeinärzte, wieder vor sich, so ähnliche Hände, dass er Gerlachs Gesicht von der Seite verstohlen ansehen musste, und auch in diesem Gesicht erkannte er Züge seines Vaters und spürte eine fatale Verwandtschaft zu diesem Fremden, eine ganz und gar unpassende Nähe. Gerlachs hatten sich ihm gegenüber sehr zuvorkommend gezeigt, mit soviel Nachsicht wie für einen ausgewanderten Neffen, den sie jetzt zu Hause willkommen hießen und mit allen Mitteln unterstützen wollten, sich zu etablieren. Geld spielte bei ihnen anscheinend keine maßgebliche Rolle, sie sprachen von Generationenvertrag, wünschten sich, dem jungen Mann, obwohl kein Neffe, aber so gut als
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