Der Gesang der Haut - Roman
ob, alle Wege zu ebnen, hatten sogar noch schnell Räume und Diele neu streichen lassen, sie hatten für ihn über Bekannte eine Wohnung gefunden, die er am nächsten Tag besichtigen sollte, sie bewiesen in jeder Hinsicht Großmut und Freundlichkeit, und doch oder vielleicht gerade deshalb spürte Viktor keine Lust, sie näher kennenzulernen, sträubte sich gegen eine mögliche Bindung, sich vielleicht mit dem Dankbarkeitsgefühl in eine neue Abhängigkeit zu begeben. Er fühlte sich reif dafür, seinen Weg ohne die Unterstützung alter Männer zu gehen. Das Paar Gerlach hatte auch etwas Störendes, das er nicht definieren mochte, vielleicht waren sie nicht nur auf der Suche nach einem Neffen, sondern nach einem Sohnersatz, und Viktor war über dreißig Jahre lang Sohn und Enkel genug gewesen. Man wirft freilich seine Erziehung nicht so leicht über Bord und, als er eine Einladung zum Abendessen erhielt, nahm er sie mit einem schmalen Lächeln an. Im Hotel telefonierte er noch mit Klara: Gern würde sie sich mit ihm freuen, sagte sie, aber sie müsse sich an den Gedanken gewöhnen, in einigen Monaten Königstein, Frankfurt und ihren Freundeskreis zu verlassen. Da würden Tränen fließen. Dann rief er kurz seine Eltern an. Väterliche Rhetorik ärgerte ihn flüchtig: Na, hast du ein Schnäppchen gemacht? Und er hörte auch die Mutter: Wenn die Wohnung dir gefällt, helfe ich dir gern, sie nett zu dekorieren. Im Hotel zog er ein frisches Hemd an und fuhr zu Gerlachs.
Sie wohnten im südwestlichen Teil der Stadt, wo Kunstgitterstäbe die Parterrefenster von alten Familienanwesen oder modernen Architekten-Villen schützen. Ihr Haus lag auf einer Anhöhe und war von einem großen Park umgeben. Das Gittertor stand offen und Viktor fuhr langsam in die Allee hinein, die geradeaus zum Haus führte. Im Licht der Scheinwerfer erahnte er Rhododendren und blaue Tannen unter den abbröckelnden Schneeschichten. Der Kies der Allee knirschte unter den Rädern. Er hielt vor dem Garagentor und bewunderte das massive, gut beleuchtete Haus. Er stellte sich vor, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen. Klara und die Kinder würden mit dem Abendessen auf ihn warten. Sein Schlüssel öffnet die Tür, er hört Klara, die die Kinder ruft. Zwei oder drei lärmende Kinder poltern die Treppen runter. Sie springen ihm an den Hals. Mein Gott, würde Klara sagen, du träumst echt klischeehaft. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund.
Er ging zur Eingangstür, ein Bewegungsmelder leuchtete auf. Ein Hund bellte irgendwo im Garten, aber Viktor sah ihn nicht. Er merkte, dass der Verputz der grauen Mauer auseinanderfiel. Die Rollläden waren heruntergezogen. Er klingelte, und etwas in seiner Brust zog sich zusammen, was sollte er hier? Warum hatten die Gerlachs, die noch nicht ganz im Rentenalter waren, die Praxis verkauft? Viktor hatte sich auf diskrete Art erstaunt gezeigt: Sie wollen Ihre gut gehende Praxis schon aufgeben? Ja, antwortete Gerlach, ja, auf jeden Fall. Man muss noch was von seiner Rente haben. Ich habe Kollegen, die kurz nachdem sie das Stethoskop an den Nagel gehängt hatten, den Löffel abgegeben haben. Günstig für die Pensionskasse, nicht wahr? Ich will noch ein bisschen leben, bevor ich ins Gras beiße.
Mein Mann ist Golfspieler, lächelte Frau Gerlach.
Dann kommt bei Ihnen keine Langweile auf, Herr Doktor Gerlach.
Sie gingen in ein düster wirkendes Wohnzimmer, das mit antiken Möbeln gefüllt war. Der Raum öffnete sich auf eine erleuchtete Terrasse, Westseite, sagte Frau Gerlach, hinten an der Ostseite hatten wir früher ein Schwimmbecken. Man kommt über die Küche hin. Das Becken ist seit Jahren leer, wir renovieren es, wenn unsere Enkelin schwimmen kann. Unsere Tochter Nora ist in Ihrem Alter, wissen Sie.
Der Swimmingpool war eine Laune meiner Frau, sagte Gerlach, damals bauten in unseren Kreisen alle einen Swimmingpool. Man aß, schwatzte und schwamm. Sagen wir, es wurde ein bisschen herumgeschwommen, ein bisschen geplanscht, geflirtet, gelacht. Vergangene Zeiten.
Es folgte ein Schweigen, in dem Viktor den Nachhall des damaligen Lachens und Planschens aus »vergangenen Zeiten« hörte. Gerlachs Tochter spukte ihm auch im Kopf, und der Verdacht, sie könne eine alleinerziehende Mutter sein, mit der Gerlachs ihn verkuppeln wollten, wurde bald von Frau Gerlach ausgeräumt: Nora und ihr Mann wohnen leider weit weg von uns, bei Freiburg, wir sehen sie zu selten.
Oft genug, sagte Gerlach, er ist Bankier und hat
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