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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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nicht nach John gesucht hättest – und
ihn dann davon überzeugt hättest, dass er aus seinem Versteck herausmuss. Wäre
er in seinem Supermarkt geblieben … dann hätte Ava keine Chance gehabt.«
    Â»Ich konnte ja nicht ahnen, wie sehr ihr mich vermisst!«
Unverkennbar Johns Stimme von der Tür her. Zusammen mit Paikea kam er herein.
Sina sah die anderen an und lächelte verlegen. »Ich musste einfach alle anrufen
und ihnen erzählen, wie es Ava geht. So etwas darf man doch nicht für sich behalten!«
    John strahlte seine Großnichte an. »Na, wie geht es dir,
Prinzessin?«
    Â»Gut!« Ava kaute mit vollen Backen weiter an ihrem Hamburger. »Mama
sagt, du bist Bruder!«
    John sah Sina mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue an.
»Bruder?«
    Â»Na ja, ich habe ihr erklärt, dass man zum Blutsbruder wird, wenn
man sein Blut teilt – und das hast du ja gemacht. Wie es aussieht, bist du
dadurch vom Großonkel zum Bruder geworden …«
    John lachte. »Ganz schön alter Bruder, oder?«
    Brandon sah zur Tür hin. Ernst stand dort sein Vater und betrachtete
seine Enkelin. »Einer kommt, einer geht. So heißt es doch, nicht wahr?«, sagte
er vor sich hin.
    Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Keiner wagte zu fragen,
was Ewan damit meinte – auch wenn es klar war. George Cavanagh rang jetzt seit
Wochen im gleichen Krankenhaus mit dem Tod – und hielt sich zäh an seinem
letzten Restchen Leben fest.
    Â»Er kann nicht loslassen …« Ewan sah seinen Bruder an. »Er kann
nicht sterben – und ich denke, der Grund dafür bist du …«
    John sah Ewan gerade in die Augen. In seinem Gesicht war nichts zu
erkennen. Er und Ewan hatten in den letzten vier Wochen kein Wort miteinander
gewechselt. Die Enthüllungen über seine echte Mutter hatten bei Ewan nichts
bewirkt – es schien eher so, als ob er noch entschiedener an seinem Vater
festhalte. Schließlich wandte John seinen Blick von Ewan ab und sah zu Paikea.
Die kleine Frau nickte ihm fast unmerklich zu und machte einen winzigen Schritt
zur Seite. Gerade genug, dass sie John freigab. John holte tief Luft und ging
auf Ewan zu. »Dann besuchen wir ihn sofort. Bringst du mich hin?«
    Ohne ein weiteres Wort drehte sich Ewan um und ging den langen
Krankenhausgang voraus. John folgte. Sie liefen nebeneinander durch
Schwingtüren, über quietschendes Linoleum und durch den immer gleichen Geruch
nach Krankheit und Desinfektionsmittel. Schließlich erreichten sie die
Palliativstation, den Ort, an dem Patienten nicht mehr gesund wurden, sondern
nur noch auf den Tod warteten. Hier hatte die Hoffnung keinen Platz mehr. Ein
Innenarchitekt hatte sich viel Mühe gegeben, die Wände in sonnigem Gelb
gestrichen und freundliche Landschaftsbilder vom Meer aufgehängt. John
registrierte fast amüsiert, dass auf jedem zweiten Bild ein Wal oder ein Delfin
zu sehen war. So, als ob diese Tiere das Sterben leichter machen würden.
    Ewan blieb vor einem Zimmer stehen und sah seinen Bruder an.
»Bereit?«
    John nickte, und Ewan schob die Tür auf.
    Er sah seinen Ziehvater zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren. Aus
dem muskulösen, dunkelhaarigen Mann war ein in sich zusammengefallener,
weißhaariger Greis geworden, der leblos auf seinem schmalen Bett lag und aus
dem Fenster sah. John folgte seinem Blick. Ein Hinterhof, in dem ein großer
Blue-Gum-Eukalyptusbaum stand. »Witwenmacher« nannten die Leute auf dem Land
diese Bäume – weil völlig unvermittelt die ausladenden Äste abbrachen und den
ahnungslosen Menschen, der darunterstand, einfach erschlugen. Ein merkwürdiger
Zufall, dass ein Baum mit einem so düsteren Ruf der letzte Anblick für einen so
unbarmherzigen Mann sein sollte.
    John trat langsam ans Bett. »Hallo, Dad.«
    Langsam wandten sich die Augen des alten Mannes von dem Baum ab und
richteten sich auf ihn. Unveränderte, tiefschwarze Augen, die schon immer an
ein lauerndes Raubtier erinnert hatten. Sie schienen um keine Sekunde gealtert.
    Â»Du bist da. Ich habe auf dich gewartet, seit Ewan mir erzählt hat,
dass du aufgetaucht bist.« Seine Stimme klang anklagend und keine Spur versöhnlich.
    Â»Warum sollte ich dich sehen wollen?« John sah auf seinen Ziehvater
herab und stellte zu seiner eigenen Verwunderung fest, dass er Mitleid verspürte.
Dieser grausame und skrupellose Mann

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