Der Gesang der Maori
Geschichte verkraften würde«, murrte der
dunkelhaarige Mann und rieb sich über das Gesicht. »So erschreckend kann die
Wahrheit nicht sein. Und ich bin inzwischen auch kein kleines, verängstigtes
Kind mehr. Das ist lange her.«
John musterte ihn eine Weile, dann fing er mit leiser Stimme an zu
reden. »Die Wahrheit? Du bist dir sicher, dass deine Mutter bei deiner Geburt
gestorben ist und Miriam hieÃ. Dabei heiÃt deine Mutter Ruiha. Ein
Maori-Mädchen, das lange in den Diensten von George stand. Bis er sie vergewaltigte
und sie zwang, dieses Kind zu kriegen â dich.«
»Lügen!« An Ewans Schläfe schwoll eine Ader an. »Beweise?«
»Ruiha bekam von deinem Vater ein Haus geschenkt. Die Bedingung: Sie
sollte sich nie wieder melden. Nur so konnte sie ihren Freund heiraten und ein
glückliches Leben führen. Kurz bevor sie starb, lernte sie allerdings Sina
kennen â und erzählte ihr die komplette Geschichte. Sie lernte sogar Brandon
kennen, ihren Enkel. Und er hat auf ihrer Beerdigung einen Haka getanzt â¦Â«
»Beweise! Gibt es Beweise?«, forderte Ewan trotzig.
John nickte. »Ja. Sina hat mir heute Vormittag die ganze Geschichte
erzählt. Es gibt Briefe von George Cavanagh an Ruiha. Er muss sie wirklich
geliebt haben â merkwürdiger Kauz, der er ist. Und es gibt Fotos. Von einem
Angus MacLagan. Einem Mann, der an der Westküste ein Minenunglück verantwortet
hat. Es ist der gleiche Mann, der hier an der Ostküste ein neues Leben als
George Cavanagh angefangen hat! Ewan, dein Vater war immer nur hinter Macht und
Geld her â¦Â«
Nachdenklich kaute Ewan auf seiner Unterlippe. Eine Angewohnheit,
die John rührte â das hatte der kleine Ewan schon als Fünf- oder Sechsjähriger
getan, wenn ihn irgendetwas heftig bewegte. SchlieÃlich räusperte er sich.
»Auch wenn das alles richtig sein mag â jetzt liegt er im Sterben. Seit zwei,
drei Jahren baut er immer mehr ab, er interessiert sich ja nicht einmal mehr
für seine Reederei! Und jetzt der Schlaganfall â wer auch immer er war, er ist
nur noch ein Schatten seiner selbst.«
John nickte. »Ja. Brandon meint, er hat seinen Lebenswillen
verloren, seit er von Ruihas Tod erfahren hat. Offensichtlich hat er in seinem
alten, sturen Schädel immer noch von einer Versöhnung geträumt.«
»Das könnte sogar stimmen«, murmelte Ewan. »Es ging wirklich von
einem Tag auf den anderen bergab. Ich habe mir damals immer gedacht, dass es
vielleicht ein kleiner Schlaganfall oder so etwas sein könnte. Keine Ahnung,
vielleicht war es ja auch diese Sache, die ihm damals den Lebensmut geraubt
hat.« Er schüttelte den Kopf. »Und trotzdem. Er ist ein gebrochener Greis. Geh
zu ihm. Er kann dir nicht mehr gefährlich werden, und er stirbt vielleicht
ruhiger, wenn er dich vorher noch einmal sehen kann.«
John schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Er hat mir zu viel
zerstört. Er hat mir meine Mutter geraubt! Wie könnte ich das je verzeihen â¦Â«
»Aber sie kommt nicht zurück, egal, was du jetzt machst«, gab Ewan
zu bedenken. Er wollte noch etwas sagen, wurde aber von Katharina unterbrochen,
die auf die Veranda kam und anfing, Teller und Gläser auf den groÃen Holztisch
zu stellen. »Ich wollte nur ein bisschen Essen bereitstellen, weil Sina später
aus dem Krankenhaus kommt«, entschuldigte sie sich.
John legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das ist schon in Ordnung.
Und jetzt hol doch Matiu heraus. Es ist allerhöchste Zeit, dass er seinen Onkel
kennenlernt.«
Der Rest des Abends verlief friedlich â auch wenn keiner am Tisch
den Grund für dieses Treffen vergessen konnte: das kleine Mädchen, das im Krankenhaus
um sein Leben kämpfte. Aber die beiden Brüder erzählten Geschichten aus ihrer
Kindheit in Charteris Bay â und immer spielten das Wasser, Segelboote und
Missgeschicke eine groÃe Rolle. Es war fast Mitternacht, als Sina nach Hause
kam. Katharina erschrak über die tiefen Augenringe ihrer Freundin, sah aber
auch das Leuchten in ihren Augen. Sie betrat die Veranda, ging auf John zu und
umarmte ihn. Dann sah sie ihm lange in die Augen. »Ich habe es von Anfang an
gewusst. Du bist der Schlüssel zur Gesundung unserer Tochter. Ich war gerade
eben noch im Labor â und die ersten Ergebnisse zeigen, dass du der ideale
Spender für Ava bist. Du wirst
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