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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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nicht gefunden wurde, nahmen alle an, er habe das Feuer gelegt und sei in den Flammen umgekommen. Damals gab es noch keine Experten wie heute, die die Asche sieben und jedes noch so kleine Futzelchen eines Menschen finden. Nichts blieb von dem Haus übrig – nichts außer dem Stall und dem Keller.»
    «Warum wurde es wieder aufgebaut?», fragte Robert.
    «Warum, warum …? Ich weiß es nicht! Das hätte nicht passieren dürfen. Und nach der schrecklichen Sache mit den Nussmanns hätten wir es abbrennen müssen, endgültig … aber wir waren zu feige. Und nun …»
    «Was ist mit den Nussmanns passiert?», fragte Kristin.
    Zu einer Antwort kam Johann nicht mehr. Ein gellender Schrei ließ sie zusammenfahren.
    Noch während die anderen wie erstarrt waren, zog Robert seine Waffe und lief zur Tür. Eines der Kinder hatte geschrien. Dass es sich um ein Spiel handelte, schloss Robert aus. Der Schrei war ihm durch Mark und Bein gefahren. Mit vorgehaltener Waffe lief er über den Flur. Die Tür zum Kinderzimmer war geschlossen. Robert stoppte davor, hörte die anderen aus der Küche kommen und gab ihnen mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie hinter ihm bleiben sollten. Dann drückte er die Klinke runter und sprang in den Raum.
    Lisa, Toni und dessen Mutter hockten eng beieinander neben einer Holztruhe links von ihm. Das Zimmer wirkte wie ein Schlachtfeld, überall lagen Spielsachen verteilt. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine zweiflügelige Terrassentür. Es gab keine Gardine vor dieser Tür. Was Robert dort für den Bruchteil einer Sekunde sah, ließ ihn fast taumeln.
    Eine Gestalt; eine große, fast schon riesige Gestalt. Sie hielt beide Hände flach gegen die Scheibe gepresst, wo sie deutliche Blutspuren hinterließen. Die linke Gesichtshälfte fehlte, aber das war auch schon alles, was Robert in der kurzen Zeit erkennen konnte. Trotzdem war er sicher: Es war Radduk!
    Ohne Zögern schoss Robert dreimal hintereinander. Er konnte nicht anders. In dem engen Raum war der Lärm ohrenbetäubend. Die Kinder schrien, die Mutter schrie, und Robert meinte, auch Kristin schreien zu hören. Da die Thermoscheiben der Terrassentüren augenblicklich zerplatzten, konnte er nicht sehen, was mit der Gestalt geschah. Zwei Sekunden später, nachdem der Glasregen sich gelegt hatte, war sie verschwunden. Schnee stob ins Zimmer.
    Robert blieb reglos stehen. Ohne sich umzusehen schrie er: «Los, die Kinder hier raus, schnell, na los, macht schon! In die Küche. Und achtet auf das Fenster!»
    Fußgetrappel, Kinderweinen, Tuscheln – dann Stille. Der Wind heulte durch die zerstörten Scheiben herein und häufte Schnee auf den Laminatboden. Sämtliche Muskeln angespannt, blieb Robert stehen. Wartete. Beobachtete. Die Gestalt lag nicht im Schnee vor der Tür. Er hatte sie getroffen, da war Robert sicher. Sie hatte gar nicht die Zeit gehabt, vorher zu reagieren. Trotzdem lag sie nicht im Schnee vor der Tür.
    Langsam, ohne den wirbelnden und tanzenden Schnee aus den Augen zu lassen, ging Robert rückwärts. Nach der Gestalt zu suchen war sinnlos. Da draußen, wo er keine zwei Meter weit sehen konnte, war es unmöglich, jemanden zu verfolgen – selbst anhand der Spuren. Radduk könnte einen Haken schlagen, ihn von hinten anfallen, und noch bevor er es begriff, würde er erledigt sein. Außerdem gab es im Haus eine Gruppe Menschen, die mehr oder weniger auf ihn und seine Waffe angewiesen war.
    Er verließ das Zimmer und schloss die Tür ab. Dann steckte er die Waffe weg, sah sich um und rief nach Johann.
    «Helfen Sie mir mal», sagte er und deutete auf den Garderobenschrank, der unweit des Spielzimmers an einer langen graden Wand stand. So wie er war, mit Mänteln, Hüten, Schals, Handschuhen und dem Telefon, schoben sie ihn zur Tür, rissen dabei das Kabel aus der Dose. Der Schrank war aus massivem Holz und gute zwei Meter hoch. Die Tür zum Spielzimmer deckte er gänzlich ab.
    Schwer atmend verharrten sie einen Augenblick.
    «Auf was … auf was haben Sie geschossen?», fragte Johann um Atem ringend. Eine Hand hielt er an seine Brust gepresst.
    «Robert, war er das?» Kristin stand mit Lisa auf dem Arm in der Tür zur Küche. Marias Kopf schaute hervor und ein Stück weiter unten auch der des Jungen. In den Augen der Kinder glitzerten Tränen.
    Robert nickte. «Ja.»
    «Oh Gott …» Kristin presste sich eine Hand auf den Mund.
    Johann packte Robert am Oberarm, «Wer war das, auf wen haben Sie geschossen? Sagen Sie es

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