Der Gesang des Blutes
euch jetzt sage, wissen nur wenige Menschen hier im Dorf. Und die schweigen. Niemand erzählt so etwas gern oder zum Spaß.»
Johann warf einen Blick in die Runde, der bei Kristin endete, bog den Rücken durch und begann.
«Sechs Männer erklärten sich damals spontan bereit, dem Sasslinger bei der Jagd nach dem Mörder seiner Frau zu helfen. Er brauchte wohl nicht lange bitten. Anna-Maria Sasslinger war ein hübsches Mädchen. Sie stammte aus dem Dorf, die mochten sie. Sie müssen voller Zorn gewesen sein, als sie davon hörten.
Der Vater meines Vaters war dabei, Hannas Urgroßvater und auch der von Gerd, ihrem verstorbenen Mann. Zwei von den drei anderen sind namentlich nicht bekannt, wahrscheinlich waren es Erntehelfer von auswärts. Der sechste hieß Björn Thorvaldsen, ein Däne. Von seiner Familie lebt niemand mehr hier. Soweit ich weiß, sind sie in ihr Land zurückgekehrt.
Sie bewaffneten sich mit dem, was sie hatten. Messer, Mistgabel, Sensen. Für Schusswaffen hatte damals niemand Geld. Sie folgten den deutlich sichtbaren Spuren eines Handwagens.»
Johann brach seine Erzählung ab, als er das Verstehen in Kristins Augen aufleuchten sah. «Ja, du hattest recht mit deiner Vermutung. Hanna hat mir natürlich erzählt, was du im Stall gefunden hast.»
«Es war sein Wagen, nicht wahr?»
«Ja, ich denke schon. Aber niemand von uns wusste, dass der Wagen noch existiert.»
«Warum habt ihr es mir nicht gesagt?»
Johann sah sie an, zuckte mit den Schultern und warf Maria einen hilfesuchenden Blick zu. Sie antwortete anstelle ihres Mannes.
«Du musst das verstehen, Kristin. Wir waren uns einfach nicht sicher und … na ja, du musstest so viel erleiden, wir wollten dich nicht noch zusätzlich belasten.»
Kristin nickte. In Gedanken war sie aber nicht wirklich bei Marias Entschuldigung. Vor ihrem geistigen Auge war plötzlich das Messer aufgetaucht. Das alte Messer mit dem Holzgriff, in dessen Poren irgendwas eingezogen war. Sie hatte es angefasst, dieses Messer, mit dem …
Nur mein Blut an der Klinge … nur mein Blut …
Kristin stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht.
«Mädchen … was ist mit dir? Ist alles in Ordnung?» Johann beugte sich zu ihr rüber und faste sie an den Schultern.
«Ja … ja, es geht schon, ich war nur …»
«Das ist alles zu viel, nicht wahr?»
«Es geht schon, wirklich.» Kristin bog den Rücken durch und versuchte sich in einem Lächeln. Was aufmunternd und stark aussehen sollte, wirkte mitleidig und hilflos. «Erzähl weiter, bitte.»
«Sie haben ihn gefoltert, oder?», fragte Robert.
Johann, der seine Erzählung eben hatte fortsetzen wollen, sah ihn erstaunt an, bevor er nickte.
«Ja, das haben sie. Sie gebärdeten sich wie wilde Tiere … nicht wie zivilisierte Menschen.»
Er stockte und strich sich über die Augen, als wolle er einen Eindruck vertreiben.
«Sie erwischten ihn in einem Flusstal, keine sechs Kilometer von hier entfernt. Er mühte sich damit ab, seinen schweren Handwagen durch den morastigen Boden zu ziehen.»
«Warum hat er ihn nicht zurückgelassen?», unterbrach Robert Johann.
«Den Wagen?»
«Ja, er muss doch geahnt haben, dass sie die Spuren verfolgen würden.»
«Das hab ich mich auch oft gefragt. Ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht war alles darin, was er besaß?»
Robert nickte. «Aber er starb nicht in dem Flusstal, oder?»
Johann hob seine Schultern und ließ sie wieder sinken.
«Nein. Aber man kann einem kräftigen Mann schlimme Verletzungen zufügen, ohne ihn zu töten. Und das taten sie. Sie zerstachen ihm die Füße, damit er nicht mehr flüchten konnte. Sie schnitten ihm die Kleider vom Leib, bis er nackt war, und schlugen ihn, traten ihn in den Fluss, der in jenem Sommer kaum tiefer als zwanzig Zentimeter war.
Mein Urgroßvater konnte zeit seines Lebens den Anblick des Blutes nicht vergessen, das den Flusslauf über eine lange Strecke rot färbte. Er quälte ihn jede Nacht … und war wohl auch der Grund, warum er zum Alkoholiker wurde und früh an einem Schlaganfall starb.»
Kristin starrte Johann an, sie konnte nicht anders. Mit jedem seiner Worte wurde ihr bewusst, wie absurd das alles war. Da saß ein alter Mann, ein Opa, ein richtiger Bilderbuchopa sogar; groß von Gestalt, ergrautes Haar, im Gesicht wie auf dem Kopf, wache, wässrige Augen und ein Charakter, der Kinder magisch anzog. Um dieses Bild zum Klischee zu machen, rauchte er auch noch Pfeife. Dieser Opa saß an einem großen Küchentisch in einer
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