Der Gesang des Blutes
sich darüber, dass er seine Jacke nicht auszog. Noch wussten sie nicht, dass er eine Waffe trug.
Johann wirkte wie ein Schatten, beinahe schon wie eine Leiche, die wieder zum Leben erwacht war. Tief lagen seine Augen in den Höhlen, er saß gekrümmt, die Schultern nach vorn gezogen. Eine unendlich schwere Last schien auf ihnen zu liegen; viel schwerer, als er zu tragen vermochte. Und augenscheinlich konnte Maria ihm nichts davon abnehmen. Auch sie wirkte bedrückt, aber längst nicht so wie Johann. Was auch immer vorgefallen war, sie hatte noch längst nicht aufgegeben. Johann hingegen schien seine Hoffnung verloren zu haben.
Er stellte seine Tasse ab, spielte mit seiner Pfeife und sah niemanden an, als er zu sprechen begann.
«Hanna hat ihren Laden nicht geöffnet. Wir waren schon drüben, in ihrer Wohnung … sie hat mir vor Jahren mal den Schlüssel gegeben. Aber sie ist nicht da. Hanna geht niemals weg. Solange ich denken kann, hat sie den Laden pünktlich geöffnet, selbst wenn sie die Grippe hatte.»
«Wo könnte sie denn sein?», fragte Kristin.
«Ich weiß es nicht.» Johann schüttelte bedächtig seinen großen Kopf, blickte von seinen Händen auf und sah Kristin eindringlich an. Ein feuchter Schleier lag in seinem Blick. «Aber es könnte etwas mit dir zu tun haben.»
«Mit mir?»
Er machte eine hilflose Handbewegung, die alles bedeuten konnte. Mit dieser Handbewegung zerschmolz der große alte Mönck vor ihren Augen zu einem kleinen Jungen, der vor irgendetwas so große Angst hatte, dass ihm die Worte fehlten, es zu beschreiben. Kristin empfand Mitleid. Sie wollte ihm zu Hilfe kommen und sagte, was ihr als Erstes einfiel.
«Was stimmt nicht mit dem Haus?»
Johanns Augenbrauen rutschten in die Höhe.
«Hast du etwas … ist etwas passiert?»
Kristin wechselte einen schnellen Blick mit Robert. Es schien ihr, als schüttelte er kaum merklich den Kopf. Nein, erzähl noch nichts, lass ihn den Anfang machen. Vielleicht war es auch nur eine Täuschung.
«Ich weiß nicht, vielleicht.» Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die des alten Gärtners. «Johann, wenn du etwas über mein Haus weißt, dann erzähl es mir bitte.»
Er blickte zu seiner Frau und nickte dann.
«Dein Haus … das alte Sasslingerhaus, dort drüben …»
Er zögerte, blinzelte zur Decke hinauf. Kristin sah, dass er gegen seine Tränen kämpfte. Ihre Hand lag noch immer auf der seinen, sie strich über die trockene, alte Haut. Es war nicht nur Angst, die ihm zu schaffen machte, sondern auch Trauer.
«Ich muss etwas weiter ausholen … es ist nicht so einfach, und vielleicht wirst du mir nicht glauben …»
«Ich werde dir ganz bestimmt glauben.» Kristin sah zu Robert hinüber; Robert in seiner dicken Jacke mit der Waffe darunter; Robert, der auf ihrer Diele einen Menschen erschossen hatte. «Ganz bestimmt! Und ich habe euch auch was zu erzählen.»
Johann füllte seinen großen Brustkorb mit Luft. Tief da drinnen konnte Kristin es pfeifen und rasseln hören. Auf eine ungesunde Weise.
«Nun … als deine Mutter den Unfall hatte, als sie die Kellertreppe hinuntergestürzt war, da ahnten wir, dass es wieder begonnen hat. Weißt du, Hanna hat dir damals nicht alles erzählt über die Sache mit dem Scherenschleifer. Sie hat es nicht getan, weil sie dich nicht beunruhigen wollte, und eigentlich … na ja, eigentlich wussten wir ja auch nichts. Alles nur Vermutungen und Vorahnungen, verstehst du?»
Kristin sah ihn nur an. Jetzt bekam sie bestätigt, was sie spätestens seit ihrem letzten Traum gefühlt hatte: Das alles hatte mit dem Scherenschleifer zu tun. Mit der unheilvollen Geschichte, die sich einst in ihrem Haus zugetragen hatte.
«Damals, nachdem der Scherenschleifer die junge Frau getötet hatte, fand eine richtige Hetzjagd statt. Man kann das ja auch verstehen, der Kerl hatte das Mädchen grausam zugerichtet, und der junge Sasslinger hatte wohl nur noch Hass und Rache im Kopf. Sie fanden ihn sehr schnell. Seine Schuld war so sicher wie das Amen in der Kirche. Hanna hat dir erzählt, dass sie den Scherenschleifer an dem Kastanienbaum neben dem Haus aufhängten, und das stimmt auch. Aber das ist nicht alles … längst nicht alles.»
Er trank von seinem Tee und warf einen langen Blick zum Fenster. Schneeflocken trudelten vorbei. In dieser schweigenden Pause hörten sie alle den stärker werdenden Sturm ums Haus toben. «Manche Geschichten», setzte Johann dann fort, «sollten besser nicht erzählt werden. Was ich
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