Der Gesang des Blutes
gemütlichen Küche, während draußen die Welt im Schnee versank, und erzählte von Mord, Totschlag und Vergewaltigung, mit der Option auf Spuk und Grusel.
Johann bemerkte ihren Blick. «Geht’s dir gut, Mädchen?» Er legte seine Hand auf ihre und löste damit eine ganze Welle von kalten Schauern bei ihr aus. Der Gruselopa fasste sie an. Kristin nickte. «Es geht schon.»
«Sicher?»
«Es geht schon, wirklich, aber das alles ist …» Weil ihr das richtige Wort fehlte, weil es das richtige Wort vielleicht gar nicht gab, schüttelte Kristin nur den Kopf.
Maria, die rechts neben ihr saß, strich ihr über den Rücken. «Ich kenne diese verfluchte Geschichte beinahe so lange, wie ich Johann kenne, und immer wieder könnte ich mich übergeben, wenn ich sie höre. Ich verstehe dich, Kind, sehr gut sogar.»
Johann wartete. Erst als Kristin ihm versicherte, dass es ihr wirklich gutging, machte er weiter.
«Sie legten den halbtoten Mann auf den Handwagen und zogen ihn zum Haus zurück. Anna-Maria lag noch immer in ihrem Blut auf der Diele. Niemand war gekommen, sich um sie zu kümmern. Mein Vater erzählte mir, der junge Sasslinger habe ins Haus gemusst, um ein Seil zu holen, und niemand ging für ihn oder mit ihm. Die sechs anderen bewachten den halbtoten Scherenschleifer, setzten sich lieber dem Anblick seiner zerhackten Füße aus, als noch einmal die Frau, die sie alle gemocht hatten, so zu sehen. Sasslinger blieb lange in der Diele. Niemand schaute nach. Als er wieder herauskam, war seine Kleidung blutverschmiert. Ich kann mir vorstellen, dass er seine junge Frau zum letzten Mal in die Arme genommen hat. Sich verabschiedet hat.
Und dann …», Johann räusperte sich, «dann kam er heraus, und mein Urgroßvater beharrte zeit seines Lebens darauf, dass nichts mehr von dem Sasslinger an ihm gewesen sei, den er gekannt hatte. Heraus kam jemand anderer, und der tat etwas Ungeheuerliches.
Die anderen hatten den Scherenschleifer losgebunden und vom Handwagen genommen. Sasslinger ging zu ihm, riss den Kopf des Scherenschleifers an den Haaren hoch und starrte ihn lange an. Dann beugte er sich über den Unterleib des Scherenschleifers, schnitt ihm das Geschlecht ab und … stopfte es ihm in den Mund.» Johann hielt inne. Die letzten Sätze hatte er schnell gesprochen, wie jemand, der etwas Unangenehmes erledigen musste. Nun war er außer Atem, und in der Zeitspanne, in der sich sein Puls beruhigte, schwiegen die anderen. Was konnten sie auch sagen?
«Wahrscheinlich war er schon tot, bevor sie ihn aufhängten», fuhr er mit leiser Stimme fort. «Sie hängten ihn an einen dicken Ast der Kastanie, und während er dort baumelte, ließ die Wirkung, die Hass und Wut auf die Männer gehabt hatte, wohl nach. Sie gingen fort, flüchteten, ließen den jungen Sasslinger allein. Später erfuhren sie, dass Sasslinger die Leiche noch am selben Tag vergraben hatte.»
Johann sah Kristin an. «Er begrub sie im Keller deines Hauses. Warum ausgerechnet dort, konnte sich niemand erklären.»
30
Mit dem Tageslicht nahm auch der Wind wieder zu. Der Sturm setzte ein weiteres Mal an, Schnee in wilden Schüben übers Land zu treiben, ihn hier und dort aufzutürmen und fremdartige Formen zu schaffen. Jenes dunkle Grau am Himmel des frühen Morgens hellte sich zu marmoriertem Silber auf, unter dem rauchfahnige Fetzen schwarzer Wolken entlangtrieben, gehetzt und zerrissen vom eisigen Nordwind. Ein Vakuum der Stille legte sich über das vereiste Land, in dem nur der Wind zwischen den kahlen Ästen und erstarrten Tannenwipfeln raunte und Flocken sich flüsternd auf den weißen, alles erstickenden Teppich legten. Dicht und gleichmäßig fielen sie, und wenn der Wind seine Stimme erhob und zwischen sie fuhr, verwirbelten sie zu unheimlichen Gestalten, die einen kalten Tanz aufführten. Unter diesen Gestalten bewegte sich etwas auf die Baumschule Mönck zu. Ein dunkler Schatten im Schnee.
Nichts ahnend saß die kleine Gruppe um den Tisch in der warmen Küche. Trotz der Wärme waren sie weit davon entfernt, sich sicher und geborgen zu fühlen. Sie fühlten sich im Gegenteil auf eine Art ausgeliefert, die sie bisher nicht gekannt hatten. Das bedrohliche Gefühl von Gefahr im Nacken, aber nicht in der Lage, sie genau bestimmen oder gar bekämpfen zu können, zehrte an ihren Nerven.
«Drei Tage nach der Beerdigung Anna-Marias brannte das Sasslingerhaus nieder», fuhr Johann fort, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. «Da der junge Sasslinger
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