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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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aufgestanden, dann stand er still. Alles stand still. Die Luft, ihr Herz, ihr Verstand. Minuten vergingen, ehe Kristin den nächsten Atemzug tat. Minuten, in denen sich ein Bild immer wiederholte: Licht, das den Raum erhellt, der Schreibtischstuhl, der eine halbe Drehung macht und dann stehen bleibt.
    Er war doch nicht nach Haus gekommen. Allem Wunschdenken zum Trotz ließ das Leben sich nicht hintergehen. Es schickte niemanden zurück, nur weil er so dringend gebraucht wurde. Beinahe jeder wurde von irgendjemanden dringend gebraucht, was verschaffte ihr eine Sonderstellung?
    Aber sie hatte ihn doch gespürt, seine Antwort aus dem Büro gehört. Hatte sie ihn sich so sehr gewünscht, dass der Schreibtischstuhl eine halbe Drehung gemacht hatte? Telepathie, oder wie nannte man so etwas?
    Nein, so etwas nannte man Einbildung. So etwas passierte, wenn man aus dem Schlaf aufschreckte und die Geräusche eines alten Hauses hörte. So etwas passierte, wenn man mit zweiunddreißig zur Witwe wurde und die Welt plötzlich eine nie gekannte Dimension erhielt: die Leere.
    Es kostete sie immens viel Kraft, trotzdem trat Kristin einen Schritt ins Arbeitszimmer. Danach ging es leichter. Der Raum war kühl, die Luft mit einem Gefühl der Leblosigkeit behaftet. Aber da war noch etwas anderes. Je näher sie dem Schreibtisch kam, desto mehr spürte sie eine Art Kribbeln, ein leichtes Vibrieren. Nicht auf der Haut, sondern in ihrem Kopf und ihrem Herzen – als pflanze sich aus der Luft eine feine Schallwelle fort. Sie drang durch Ohren, Nase und Mund in ihren Körper und spielte dort auf den feinen Saiten ihrer Empfindungen. Kristin kam am Schreibtisch an, stützte sich mit den Händen an der Platte ab und umrundete ihn. Sie ließ sich in den Sessel fallen. Jetzt gewann das Gefühl an Deutlichkeit. Es war vorhanden wie das Licht, spürbar wie die Kälte … es war der übermächtige Eindruck, nicht allein im Zimmer zu sein. Diesen Eindruck hatte sie oben auch schon gehabt, doch dort war es das Grauen ihrer Gedanken gewesen, das in die Realität herübergekrochen war. Hier im Büro war es etwas anderes.
    Kristin drehte sich mit dem Stuhl und sah sich um. Alles war wie immer. Toms Büro war noch nicht fertig eingerichtet. Regale fehlten. Bücher, lose gesammelte Unterlagen stapelten sich auf dem Boden, eine Unzahl von Planrollen war in die Ecken gelehnt. Ein geordnetes Chaos, das Tom in den nächsten Wochen ohne Frage beseitigt hätte. Er hasste Unordnung.
    Als Kristin eine Drehung mit dem Stuhl vollendete und wieder den Schreibtisch vor sich hatte, fiel ihr ein brauner Umschlag auf, der ein Stück weit aus den anderen Unterlagen herausragte, die sich in dem Turm aus vier übereinandergestapelten Ablagen befanden. Er fiel ihr auf, weil die Klappe des Umschlags von einer weißen Kante offen gehalten wurde, die von dem harten Karton einer Fotografie stammte.
    Kristin zog den Umschlag aus dem Stapel hervor und entnahm den Inhalt. Fünf Fotografien befanden sich darin. Ohne sie ansehen zu müssen, wusste sie, was darauf zu sehen war: ihr Haus. Diese Bilder hatte der Makler ihnen eine Woche vor der Besichtigung geschickt. Sie hatten lange Abende darüber verbracht, hatten sie beim Frühstück und Abendessen wieder und wieder angesehen. Davon zeugten noch immer die fettigen Fingerabdrücke und Kaffeeflecken. Über diesen Bildern waren sie ins Träumen und Schwärmen geraten, wegen dieser Bilder hatten sie schlaflose Nächte verbracht, hatten gehofft, dass sie die Realität abbildeten und nicht irgendeinen geschönten Ausschnitt.
    Jetzt war es ihr Haus. Jetzt saß sie in ihrem Wunschtraum. Und nichts wünschte sie sich in diesem Moment mehr, als noch einmal wählen zu können. Wählen zwischen der Erfüllung ihrer Träume und dem Mann, den sie liebte.
    Aber diese Wahl hatte sie nicht.

4
    Irgendwas stimmte nicht. Es war nichts Handfestes, nichts Greifbares, aber seit gestern, als der verpickelte Jungmafiosi mit der Waffe auf ihn gezielt hatte, war Robert die leise köchelnde Ahnung nicht losgeworden. An irgendeiner unbekannten Stelle seines Lebens braute sich etwas zusammen. Auf seinen siebten Sinn hatte er sich noch immer verlassen können. Deswegen hatte ihn Sven Brünings Anruf auch nicht überrascht. Er war die logische Konsequenz seiner Vorahnungen.
    Sven, alles andere als ein Geheimniskrämer, hatte nicht viele Worte gemacht und um ein Treffen gebeten. Seine Frage, ob er es schon wüsste, klang Robert noch in den Ohren. Was auch immer es

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