Der Gesang des Blutes
Vater nicht mehr lebte, und Kristin fühlte, dass auch sie noch weit davon entfernt war. Tom war nicht mehr da. Mit ihm waren viele Kleinigkeiten verschwunden, von denen Kristin bisher nicht einmal bemerkt hatte, dass es sie gab. Sein lautes Lachen im Hintergrund, wenn er mit Lisa spielte. Der leichte Druck seiner Finger in ihrem Nacken, wenn er sie küsste. Der Duft seines Rasierwassers im Bad, wenn er sich morgens fertig gemacht hatte. All das war fort. Und trotzdem erwartete sie, ihn jeden Moment zur Haustür hereinkommen zu hören. Erst als der Polizeibeamte, der zwei Tage vor der Beerdigung den Cherokee überführte, ihr Toms Sachen in einer braunen Papiertüte übergab, wurde Kristin etwas klar.
Viel war nicht in der Tüte. Seine Armbanduhr, Brieftasche und Geldbörse – und sein Ehering. Ein schlichter goldener Ring, wie auch sie ihn trug. Kristin steckte ihn sich an den Mittelfinger der rechten Hand, gleich neben den ihren. Er rutschte fast ohne Widerstand über den Knöchel, und während sie ihn sacht hin und her bewegte, verstand Kristin, warum sie Toms Tod nicht akzeptieren konnte.
Sie hatte ihn zuletzt lebendig gesehen, und die Beamten hatten ihr davon abgeraten, den Leichnam anzuschauen. Eine Kugel hatte ihn ins Gesicht getroffen, und sie waren der Meinung, es wäre besser, sie behielte ihn so in Erinnerung, wie er ausgesehen hatte, als er mit Lisa zum Kindergarten aufgebrochen war. Das konnte sie. Sie konnte sich sein Gesicht auf immer und ewig einprägen, aber sie konnte sich nicht einfach damit abfinden, dass sein Sessel im Wohnzimmer auf immer und ewig leer bleiben würde. Konnte das überhaupt jemand? Abschied nehmen, ohne sich verabschiedet zu haben?
Vielleicht, aber sie nicht.
Ganz egal, wie Toms Gesicht auch aussehen mochte, ganz egal, was die Beamten ihr rieten, sie musste ihn noch einmal sehen.
Am Tag vor der Beerdigung wurde der Leichnam aus der Hamburger Gerichtsmedizin nach Althausen überführt. Es war auch der Tag, an dem Kristins Mutter nach Althausen kam. Als sie sich an der Haustür in die Arme fielen, waren die Differenzen der vergangenen Jahre vergessen. Kristin war dankbar für ihre Hilfe. Sie überhörte sogar den Unterton in Ilse Stimme, als sie fragte, warum Lisa und sie so dünn seien? Ob es in diesem Haus nicht genug zu essen geben würde?
Entgegen Ilses Rat, die es für keine gute Idee hielt, fuhr Kristin am Nachmittag zum Waldfriedhof am Rand des Dorfes. Als sie auf dem schmalen Parkstreifen vor der Kapelle den Motor abstellte, meinte sie, es nicht zu schaffen. Weil ihr aber die Küsterin entgegenkam, mit der sie sich zuvor telefonisch verabredet hatte, blieb ihr keine Wahl. Widerstrebend verließ sie den sicheren und vertrauten Wagen.
Die Küsterin erwartete sie mit ausgestreckter Hand an der Pforte. Ihr blumiger Rock spannte sich zwischen ihren stämmigen Beinen wie das Segel einer Fregatte.
«Frau Merbold!», Kristins Hand verschwand in der ihren, und sie wurde herzhaft gedrückt. «Es tut mir ja so furchtbar leid für Sie und Ihre kleine Tochter. In was für einer Welt leben wir nur?» Gudrun Schwarz blickte zum Himmel.
Kristin brachte ein «Danke» hervor und war froh, aus der Umarmung entlassen zu werden. Ihre Hand blieb jedoch noch in Gefangenschaft.
«Ich weiß, Sie sind noch nicht lange bei uns, Frau Merbold, aber wenn Sie mit jemandem sprechen möchten, kommen Sie doch einfach montags um drei viertel acht ins Gemeindehaus. Da haben wir immer Frauengesprächskreis.»
«Danke … vielleicht mache ich das.» Kristin wusste, dass sie von diesem Angebot niemals Gebrauch machen würde. Familienprobleme gehörten in die Familie und nicht in irgendwelche Gesprächskreise.
«Sie müssen jetzt furchtbar einsam sein … da draußen, in dem alten Sasslingerhaus.»
Sasslingerhaus? Dieses Wort hatte Kristin noch nie gehört. Und was war das für eine Betonung, mit der die Küsterin es aussprach? Wollte sie tratschen oder einfach nur freundlich sein? Es war Kristin egal, sie hatte keinerlei Interesse an einer Unterhaltung. Vor einer Woche noch hätte sie der im Dorf gebräuchliche Name ihres Hauses brennend interessiert. Jetzt nicht mehr.
«Manchmal», sagte sie tonlos. Entweder spürte die Küsterin, dass Kristin nicht reden wollte, oder aber der Schatten der Kapelle, in den sie nun traten, ließ sie verstummen. Die letzten Meter legten sie schweigend zurück.
Kristin nahm die Geräusche ihrer Umgebung überdeutlich wahr. Lauer Wind wiegte sanft die oberen Äste
Weitere Kostenlose Bücher