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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Studentenbude mitgebracht und sich immer geweigert, es auszumustern. Sprechende Sessel wirft man nicht auf den Sperrmüll. Irgendjemand könnte ihn sich holen und bekäme dann erzählt, was sich alles in dem Sessel abgespielt hatte.
    Sie saß darin versunken, streichelte mit den Händen über das weiche, kalte Leder. Der Sessel war noch da, er würde noch sehr lange da sein – aber Tom war fort. Kristin starrte auf den backsteinernen Kamin, den er eigenhändig gemauert hatte, und begriff zum ersten Mal wirklich, dass sie nun allein war – und es vielleicht für immer bleiben würde. Sie zog die Beine an, umklammerte ihre Knie, rollte sich wie ein Fötus in den Sessel ein und glitt nach einer Weile in einen unruhigen Schlaf.
    Eine Flut von wirren, kaum zusammenhängenden Bildern stürzte im Traum über sie herein. Allmählich kristallisierte sich ein Reim daraus hervor. Er kam ihr bekannt vor. Die Worte wurden von einer männlichen, samtig tragenden Stimme gesungen: «Ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt … bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.»
    Schlagartig erwachte Kristin.
    Sie setzte sich auf, blinzelte, begriff nur sehr langsam, dass sie in dem engen Sessel eingeschlafen war. Die Patchworkdecke lag auf dem Boden. Sie fror. Während sie sich die Decke um die Schultern wickelte, hörte sie die Stimme in ihrem Kopf. Nein, nicht wirklich, eher war es ein Nachhall, ähnlich einem Echo in einer weitläufigen Höhle.
    Es war der Refrain des Songs, den sie im Radio gehört hatte, kurz bevor die schwarzen Männer mit der Nachricht von Toms Tod an ihrer Tür geklingelt hatten. Kristin kannte das Lied genau. Sie wusste, dass die Stimme, die sie im Traum gehört hatte, nicht dem Sänger gehörte, dem sie damals mit Tom im Stadion zugejubelt hatte. Der Reim stammte fraglos aus dem Lied, doch sie hatte keine Musik geträumt, nur die Worte, gesungen von einer betörenden, einfangenden Stimme, aus deren Tiefen man erfahren konnte, dass sie viel mehr wollte als nur einen Reim zum Besten geben.
    War sie deshalb aus dem Traum geschreckt? Hatte sie sich von der Stimme bedroht gefühlt? Kristin stand auf und löschte das Licht. Mit der Decke um die Schultern schlich sie zur Treppe. Auf der zweiten Stufe blieb sie abrupt stehen.
    «Nur mein Blut an der Klinge.» Flüsternd sprach sie den Satz aus. Die Worte hatten sich ihr aufgedrängt, waren in ihrem Kopf aufgetaucht wie der Reim des Liedes.
    Verstört zog Kristin die Decke enger und ging hinauf.

6
    «Dann nahm er das Messer und schnitt ihr an jedem Fuß zwei Zehen ab. Vier Zehen für vier Freier, deren Geld sie sich in die eigene Tasche gesteckt hatte.»
    Sven verstummte. Das gleichmäßige, in den letzten drei Stunden zu einer Art Vertrauten gewordene Motorgeräusch des BMW untermalte ihr Schweigen. Seit zehn Minuten fuhren sie die gewundenen Straßen hinauf. Rechts und links erhoben sich dicht bewaldete Hügel, verschmolzen mit der Nacht zu einem bedrohlichen Gebilde, das sie gefangen zu halten schien. Die Scheinwerfer des Wagens schnitten Lichttunnel aus der Schwärze, in denen ab und an Wild über die Straße wechselte.
    Robert schüttelte nachdenklich den Kopf.
    «Das passt», sagte er.
    Sven blickte zu ihm hinüber. «Was meinst du?»
    «Eric. Es passt, dass er sich mit so einem wie Radduk eingelassen hat. Sein Charakter war ähnlich. Und so wie du mir Radduk beschrieben hast, hat Eric in ihm wohl eine Art Lehrmeister gefunden.»
    Sven lachte kurz auf. «Lehrmeister ist gut. Ein Lehrmeister der Grausamkeit. Mann, diesem Radduk möchte ich nicht allein im Dunkeln begegnen. Der tötet aus Langeweile. Mir läuft es jetzt schon kalt den Rücken hinunter, wenn ich mir vorstelle, dass er da oben in der Hütte hockt und sich, bis wir kommen, schon ganz schön gelangweilt hat.»
    «Wir können noch umkehren», unterbrach Robert ihn mit schneidender Stimme.
    «So hab ich das nicht gemeint. Nein nein, lass es uns durchziehen. Wenn er das Geld aus dem Überfall noch hat, kann ich mit meinem Anteil den scheiß Job beim Paketdienst kündigen. Das ist es mir wert. Außerdem hab ich ja dich dabei.»
    Robert erwiderte nichts. Die Straße machte einer Serpentine gleich einen scharfen Knick und führte dann steil bergan weiter. Im Gegensatz zur Autobahn erforderte die Fahrt durch den Harz Konzentration. Einen Teil seiner Gedanken verwendete Robert dennoch auf die vor ihm liegende Aufgabe. Sven

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