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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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der Kiefern, Vögel zwitscherten, ein Hund bellte, irgendwo im Wald summte eine Kettensäge. Das Leben ging tatsächlich weiter, als sei nichts passiert. Unglaublich. Aber was hatte sie erwartet? Dass das Universum den Atem anhielt, nur weil ein einziger Mensch gestorben war? In ihrem eigenen kleinen Universum mochte das so sein, doch die große weite Welt nahm keine Notiz von ihrem Leid. Im Fernsehen liefen weiter Comedy-Shows, der Moderator im Frühstücksradio verbreitete weiterhin gnadenlos gute Laune, Geschäfte wurden abgeschlossen, Kriege geführt, Kinder geboren …
    Die Geräusche wurden abgeschnitten als die schwere Kapellentür hinter ihnen ins Schloss fiel. Kristin erschrak und sah sich um. Im rückwärtigen Bereich gab es einen winzigen, klimatisierten Raum, in dem nicht mehr als zwei Särge gleichzeitig aufbewahrt werden konnten. Heute war es nur einer. Die Küsterin nickte ihr schweigend zu und ließ sie allein.
    Kristin betrat den Raum und schloss die Tür. Mit beiden Handflächen an das kühle Metall der Tür gelehnt, stand sie flach atmend da und verschloss die Augen vor dem, was sie doch so unbedingt sehen wollte. Sie zitterte am ganzen Körper, wollte sich nicht umdrehen, wollte lieber wieder nach Hause fahren und Lisa in den Arm nehmen – die lebendige, vitale Lisa! Doch um jetzt noch kehrtzumachen, war sie schon einen Schritt zu weit gegangen. Zwei, vielleicht drei Minuten stand sie so da, dann drehte sie sich um.
    Der Deckel des Sarges stand aufrecht an die Wand gelehnt. Kristin ging bis an die Stirnseite vor, hielt den Blick aber zu Boden gerichtet. Erst als die Kante des dunkelbraunen Eichenholzes vor ihren Augen erschien, blinzelte sie, atmete ein – und sah Tom an.
    Er trug den dunkelblauen Anzug, den sie dem Polizisten mitgegeben hatte, doch das registrierte Kristin nur am Rande. Tom sah weder friedlich noch entspannt aus, sondern einfach nur tot. Das Einschussloch in seinem Gesicht war mit viel Schminke verdeckt worden. Das war nicht Tom. Das war nicht der Mann, den sie vor zwei Jahren geheiratet hatte. Vor ihr lag nur noch eine leblose Hülle.
    Kristin berührte ihn nicht. Sie sprach auch nicht. Sie starrte den Leichnam einige Sekunden an, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Kapelle. Im Wagen brach sie in Tränen aus.

    Am Tag der Beerdigung weinte sie nicht.
    Einige ihrer Freunde aus Hamburg kamen – wenn auch längst nicht alle –, der klägliche Rest von Toms Verwandtschaft (seine Eltern waren vor zwölf Jahren bei einem Autounfall unten in Darmstadt ums Leben gekommen) sowie sein einziger Bruder, Frank Merbold. Er sah Tom ähnlich, war aber wortkarg und verschlossen. Toms Kollegen waren unter Führung ihres Chefs ebenfalls zugegen. Der nahm Kristin während des Leichenschmauses beiseite, um ihr wortreich zu erklären, dass sie ihn jederzeit anrufen und um Hilfe bitten könne. Das sei er Tom einfach schuldig. Während er das sagte, lag seine rechte Hand an ihrer Taille. Kristin fielen die Zuckerkristalle des Butterkuchens auf, die sich im Ziegenbärtchen des Stararchitekten verfangen hatten. Sie wusste, dass sie auch von diesem Angebot niemals Gebrauch machen würde.
    Lisa hielt die ganze Zeit tapfer durch, und Kristin hielt tapfer durch, weil sie ihrer Kleinen ein Vorbild sein wollte. Als Lisa eine rote Rose in das Grab warf, biss Kristin sich die Zunge blutig, um nicht laut aufzuschreien.

    Obwohl sie sich am Abend dem Tod näher als dem Leben fühlte, konnte Kristin nicht schlafen. Nachdem sie beinahe eine Stunde krampfhaft die Lider zusammengepresst und Toms Ehering an ihrem Finger gedreht hatte, stand sie wieder auf und schlich ins Erdgeschoss hinunter. Ilse und Lisa schliefen längst. Es war still im Haus. Der Geruch von Ilses Parfüm, das sie vor der Beerdigung viel zu dick aufgetragen hatte, lag in der Luft.
    Barfuß und im leichten Pyjama huschte Kristin ins noch leidlich warme Wohnzimmer, blieb einen Augenblick unentschlossen auf der Schwelle stehen und knipste dann die kleine Lampe auf dem Beistelltisch an. Sie spendete warmes, gelbes Licht. Kristin nahm ihre alte, verschlissene Patchworkdecke, mit der ihre Mutter sie schon zugedeckt hatte, als sie zehn gewesen war, und setzte sich in Toms schwarzen Ledersessel.
    Er knarzte. Das hatte er schon immer getan. Kristin erinnerte sich, wie oft Tom behauptet hatte, sein Sessel würde auf diese Art mit ihm sprechen. Dieses sperrige Ding, das überhaupt nicht zur restlichen Einrichtung passte, hatte er aus seiner

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