Der Gesang des Satyrn
kehrte er in sein Haus zurück, wo Neaira ihn oft bis spät in die Nacht über seine Reden gebeugt fand. Es bot das Bild eines gemäßigten und für seinen Wohlstand arbeitenden Mannes, wenn er auf dem Stuhl mit der geschwungenen Lehne saß und ihr ab und an ein Lächeln schenkte. Anfangs war es Neaira genug zu wissen, dass er in seinen Räumen war. Nach einer Weile kam sie manchmal abends hinunter ins Andron und sah nach, ob Stephanos dort war. Dann leerten sie eine Schale Wein zusammen und sprachen über unwichtige Dinge.
Irgendwann wurde Neaira klar, dass es ihr zur Gewohnheit geworden war, spät abends mit ihm über Belanglosigkeiten zu plaudern, und dass ihr etwas gefehlt hätte, wenn er nicht dort gewesen wäre. Aber Stephanos war da – er ging nicht mehr aus und war zufrieden damit, seinen Wein mit ihr allein zu trinken. Langsam fanden sie wieder zueinander, und es war eine andere Art von Gefühlen als jene, die sie einst in Megara zusammengeführt hatte. Zwar lebte Neaira freier als eine Gattin in seinem Haus, doch ihre neue Übereinkunft zeugte von Respekt und Vertraulichkeit.
Stephanos begann, ihr von seinen Reden zu erzählen, von seinen Sorgen oder Siegen. Wo er früher abwesend erschienen war und sich zurückgezogen hatte, suchte er nun Neairas Nähe und sprach mit ihr über die Dinge, die ihn beschäftigten. Immer wieder trat dabei Apollodoros in Erscheinung, der im Laufe der Jahre zu einem erklärten Feind von Stephanos geworden war. „Er hasst mich“, bekundete Stephanos oft. Neaira bat ihn, diesem von Hass geprägten Mann wenn möglich aus dem Weg zu gehen.
„Das ist nicht so einfach, Neaira. Zwangsläufig geraten wir vor Gericht immer wieder aneinander. Doch wo ich meinen Groll nicht im Herzen nach Hause trage, hasst Apollodoros auch noch, wenn die Gerichtsverhandlung beendet ist.“
Je wohlhabender und mächtiger Stephanos Auftraggeber wurden, desto gefährlicher und komplizierter wurden auch Stephanos Reden. Immerhin riskierte er als Ankläger vor Athens Gerichten nicht nur hohe Strafen, sondern auch den Verlust seiner Bürgerrechte, wenn er Streitfälle verlor. Deshalb ging er dazu über, Zeugen zu Gastmählern in sein Haus einzuladen, um mehr über ihre Glaubhaftigkeit und Loyalität zu erfahren. Er bat Neaira an diesen Gesprächen und Gastmählern teilzunehmen, um danach mit ihr seine Vorgehensweise zu besprechen.
Neaira wurde für Stephanos zu einer wichtigen Vertrauten.
Die Leidenschaft ihrer Körper war zwar abgeklungen, doch an ihre Stelle trat geistige Zuneigung. Neaira gab sie ihren Lebenssinn zurück, und sie fand endlich jene Freiheit, nach der sie so lange verzweifelt gestrebt hatte.
Gleichzeitig begann Neaira Phano zu unterweisen, die sich ihr gegenüber nur sehr langsam öffnete und ihre Abneigung niemals verlor. Obwohl Phano Stephanos äußerlich mehr glich als ihr, fand Neaira sehr bald jenen Teil in Phano, den sie nur von ihr selbst erhalten haben konnte – einen trotzigen Geist und neugierigen Verstand.
Er war es auch, der das Mädchen dazu brachte, sich Neaira nicht mehr vollkommen zu verschließen. Phano wollte lernen und ihren Kopf benutzen, als sie erst einmal ihren Trotz überwunden hatte.
„Ich kann dich zwar nicht leiden, aber immerhin bist du nicht dumm“, war die höchste Wertschätzung, die Phano ihrer Mutter entgegenbrachte.
Sorgfältig verbarg Neaira sowohl Schmerz als auch ihren Stolz auf die Tochter in ihrem Herzen, lehrte sie so gut sie es vermochte Schreiben und Lesen, die Kunst der Dichtung und die Epen Homers. Zwar war Neairas Bildung nicht annährend so umfangreich wie die der Männer, doch sie genügte, Phanos Verstand zu schärfen und sie mit offenen Augen durch ihre kleine eingeschränkte Welt gehen zu lassen. Proxenos und Ariston waren weiterhin Neairas größte Sorge, denn sie beschwerten sich bei ihrem Vater, dass Neaira ihrer Schwester Flausen in den Kopf setze. Allerdings wurden sie von Stephanos zurechtgewiesen, sich nicht in die Erziehung Phanos einzumischen. Das brachte die beiden einmal mehr gegen Neaira auf, von der sie meinten, dass Stephanos ihr allzu große Freiheit gewährte. Doch da nun einmal ihr Vater der Patriarch war, mussten sie sich wohl oder übel unterordnen. „Sie wird ihrem Gatten nur Ärger machen“, behauptete vor allem Proxenos immer wieder. Er war mittlerweile ein junger Mann und dachte nur an sein berufliches Fortkommen und eine lohnenswerte Heirat.
Mit unnachgiebiger Regelmäßigkeit bat er seinen Vater,
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