Der Gesang des Satyrn
Grenzen nicht kennt.“
Neaira runzelte die Stirn. Wie konnte ein Mensch sich nur so nachhaltig verändern? Vor Jahren war er selbst kaum mehr als ein Sykophant gewesen, und jetzt faselte Stephanos von Ehre. Ein bitterer Geschmack lag auf ihrer Zunge. „Narziss wird sicherlich seine Grenzen nicht mehr überschreiten, denn sein Gesicht ist so verunstaltet, dass ihn nicht einmal mehr die geringste Sklavin ansieht, und seine Hände werden zur Arbeit kaum noch taugen.“
„Ich werde schon eine geeignete Arbeit für ihn finden“, wandte Stephanos begütigend ein und wollte Neaira in die Arme nehmen.
Warum konnte er seine Augen vor Proxenos Grausamkeit verschließen? Verärgert über sein Unverständnis entzog sie sich ihm. „Vergiss nicht, dass die hochgeschätzte Ehre und der Wohlstand deiner Familie mit dem Körper einer Sklavin erkauft wurden, Stephanos!“
Neaira ließ ihn stehen, ohne dass er etwas erwidern konnte.
In den nächsten Tagen sorgte sie für Narziss, der ebenso wenig wie die anderen Sklaven darüber sprechen wollte, wer ihn geschlagen hatte. Narziss überlebte die Grausamkeiten Proxenos, aber er war blieb ein hinkender Krüppel. Ein Tritt mit einer harten Sandale hatte seine Hüfte zertrümmert. Als Phano ihn das erste Mal von ihrer Fensteröffnung aus erblickte, verstummte sie und ließ ein Salbgefäß fallen. Sie weinte stumm. Kokkaline erzählte es Neaira am Abend, als sie ihrer Herrin das Haar wusch. „Sie gibt mir die Schuld daran“, stellte Neaira müde fest.
„Aber es ist nicht deine Schuld, Herrin. Früher oder später wäre es ohnehin so gekommen. So ist wenigstens Phanos Ehre nicht befleckt.“
Neaira nickte, obwohl sich Kokkalines Trost in ihrem Herzen schal anfühlte. Sie wusste, dass Phano ihr niemals verzeihen würde. Es war gut, dass sie bald heiratete und das Haus verließ. Hier hatte sie keine Zukunft.
Der Mann, der sich keine zwei Mondumläufe nachdem Proxenos Narziss zum Krüppel geschlagen hatte vorstellte, hieß Phrastor. Er war gekommen, um Stephanos über Phano zu befragen. Neaira, die als Stephanos Geliebte an seiner Seite sein durfte, betrachtete den Mann ausgiebig und versuchte seinen Charakter zu verstehen. Phrastor zählte achtunddreißig Jahresumläufe und war kein schöner, aber auch kein unansehnlicher Mann. Er besaß Vermögen, das er durch Duldsamkeit und ehrliche Arbeit erworben hatte, wie er Stephanos beteuerte. Seine Familie besaß zudem Land, und Phrastor war es gelungen, durch kluge Verkäufe und Handel mit seinen Ernten zu Wohlstand zu gelangen. Er suche nicht nach der schönsten Frau Athens, so äußerte er sich, als Stephanos ihm Phanos Züge beschrieb, sei jedoch einem ansehnlichen Äußeren seiner zukünftigen Gattin auch nicht abgeneigt. Ihm ginge es darum, eine Familie zu gründen und Söhne zu haben.
Neaira versuchte krampfhaft, nicht mit den Gedanken abzuschweifen während Phrastor redete, aber es gelang ihr kaum. Er ist furchtbar langweilig , musste sie sich eingestehen, während sie den Mann beobachtete, an dem alles gemäßigt erschien - seine Gesichtsmimik, seine Gesten und seine Worte. Phrastor wirkte lau wie ein Frühlingshauch. Was würde wohl geschehen, wenn ein ausgewachsener Sturm wie Phano und ein Lüftchen wie Phrastor zusammentrafen.
Neaira fragte sich das die ganze Zeit während Phrastor vor sich hinredete, ohne nur ein einziges Mal den Klang seiner Stimme zu verändern.
Als Phrastor fort war und Stephanos Neaira nach ihrer Meinung fragte, wusste sie nicht, was sie von ihm halten sollte. „Er ist ein fleißiger Mann mit ehrlichen Absichten.
Aber ich mache mir Sorgen, dass Phano ihm zu lebhaft sein könnte. Sicherlich wird sie sich kaum für Phrastor begeistern können, geschweige denn in Liebe zu ihm entbrennen.“
„Was erwartest du?“, fragte Stephanos ehrlich überrascht. „Die Ehe ist nicht für die Liebe geschaffen, sondern zur Gründung einer Familie. Natürlich unterscheiden sich Phano und Phrastor, aber vielleicht kann seine besonnene Art ihr Ruhe schenken.“
Neaira gab schließlich ihre Einwilligung in die Hochzeit. Was hatte ihr im Leben die Leidenschaft für Phrynion gebracht, der ihr so ähnlich gewesen war.
Obwohl es ihr gelungen war ihr Leben ohne ihn zu leben, kehrten ihre Erinnerungen an jenen Mann oft zurück, dessen Tod eine gewisse Leere in ihrem Herzen hinterlassen hatte, die niemals ganz hatte ausgefüllt werden können. Oft träumte sie von ihm, wobei es immer wieder der gleiche Traum war, in dem
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