Der Gesang des Satyrn
Stephanos Haus betreten hatte. Niemanden wollte sie sehen, nichts essen und nicht sprechen. Ihr Schmerz hatte sie verstummen lassen und ihre Gefühle von der Welt der Lebenden abgetrennt. Einzig Thratta und Kokkaline duldete sie in ihrer Nähe. Sie versuchten Neaira zu bewegen etwas zu essen – sie lehnte ab. Wie ein verletztes Tier rollte sie sich auf ihrem Lager zusammen und schloss die Augen, wobei Phrynions Gesicht sich auf die Innenseite ihrer Lider zeichnete und sein Lachen in ihren Ohren hallte. Warum war sie noch immer hier?
„Herrin, bitte gib dich nicht auf“, flehte Thratta Neaira an, die sie stumpfsinnig ansah.
„Denk doch an die schlimmen Dinge, die er getan hat; denk daran, was er mir angetan hat und wie wir damals vor ihm davongelaufen sind“, versuchte Kokkaline sie zu erreichen. Doch Neaira schien durch sie hindurchzustarren.
„Ich weiß es ja, Kokkaline“, gab sie matt zu. „Ich weiß, dass es dumm ist. Aber mit ihm ist meine Leidenschaft für das Leben gestorben. Ich habe es nie bemerkt, aber Phrynion war die Erde, auf der meine Füße standen.
Irgendwann wurden unsere Schicksalsfäden miteinander versponnen, und er wusste es. Wir hätten gemeinsam zum Schierlingsbecher greifen sollen.“
„Du hast doch uns ... und Stephanos.“ Kokkaline nahm Neairas Hand und erschrak ob der Kraftlosigkeit, mit der Neaira alles über sich ergehen ließ.
„Ich kenne Stephanos nicht. Ich habe so lange nur durch Phrynion gefühlt.“
Kokkaline und Thratta gaben auf. Sie deckten Neaira zu und hofften, dass der Schlaf den ersten großen Schmerz ihrer Herrin heilen würde. Vielleicht, so hoffte Kokkaline, würde Stephanos es schaffen zu Neaira durchzudringen.
Stephanos erschien einen Tag später und fühlte sich verpflichtet, Phrynions Familie, welche Neaira nie kennengelernt hatte, bei der Ausrichtung des Begräbnisses zu helfen. Sein Sohn war gekommen, um den Haushalt seines Vaters aufzulösen.
Phrynion hatte einen Sohn gehabt und eine Frau!
Irgendwo zwischen ihrem gemeinsamen Leben. Neaira hatte es nicht gewusst. Sie hätte an der Begräbnisfeier teilnehmen können, tat es jedoch nicht, da ihr die Kraft dazu fehlte. Sie verließ selten ihre Schlafkline, und das Leben schien ihr so schal, dass sie nur im Schlaf Erholung zu finden meinte. Eines Abends stand Neaira auf und durchkramte die Truhe, in der Kokkaline Kräuter aufbewahrte. Schnell fand sie, was sie suchte, öffnete die Phiole mit dem milchigen Mohnsaft und stürzte ihn hinunter. Sie trank auch die zweite Phiole bis zur Neige.
Seit Tagen hatte sie nichts gegessen. Vielleicht würde es ausreichen, sie von diesem Leben zu befreien, würde sie einschlafen lassen und zu ihm bringen. Neaira legte sich auf die Kline, rollte sich wie eine Katze zusammen und zog das Laken über ihren Kopf. Sie war so furchtbar müde ...
Das Rascheln der Blätter zwischen ihren Zehen kam Neaira bekannt vor. Sie kannte diesen Wald mit seinen Geräuschen, Geheimnissen und Verstecken. Es war der Wald ihrer Kindheit, der Wald der Satyrn! Dort vorne waren die Lichtung und das orange flackernde Feuer zwischen den Bäumen. War sie tot oder träumte sie einfach nur? Neaira begann zu laufen, der Lichtung entgegen, denn was immer dort war, zog sie zu sich hin. Der feuchte Waldboden grub sich zwischen ihre Zehen und duftete erdig, als sie den kleinen Hügel hinauflief und dann mit keuchendem Atem auf der Lichtung stehen blieb. Nur einer war da. Er hockte vor dem Feuer und starrte hinein.
In seinen Augen spiegelten sich die Flammen. Er wandte ihr sein Gesicht zu und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. Dann stand er auf. Langsam ging Neaira auf ihn zu und betrachtete ihn.
Du bist wieder jung , hörte sie ihre eigene Stimme sagen, während sie zusammen im Schein des Feuers standen.
Du doch auch.
Sie sah an sich hinunter und befühlte ihre glatte Gesichtshaut. Wie kann das sein?
Es ist dein Traum, Neaira. Du siehst mich und dich so, wie du uns sehen möchtest.
Aber er war tot, und wenn dies hier ihr Traum war, durfte er gar nicht hier sein. Außerdem hatte er sie verlassen. Wie konnte er es jetzt also einfach wagen, sich in ihrem Traum einzunisten. Ich will, dass du verschwindest, Phrynion!
Mit einem Seufzen verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und grinste. Dann schick mich zum Tartaros.
Das kann ich nicht , hörte sie sich entsetzt sagen.
Auf die elysischen Felder vielleicht?
Sie schüttelte den Kopf. Das hast du nicht verdient!
Mit einem erneuten
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