Der Gesang des Satyrn
Neaira fortzuschicken und sich standesgemäß zu verheiraten. „Du brauchst eine Gattin, keine Hetäre.“
Stephanos lehnte mit ebensolcher Unnachgiebigkeit ab und wies Proxenos in die Schranken.
„Neaira ist mir wie eine Gattin, und mehr als das.“
Die Brüder, die es nicht gewohnt waren, dass ihr Vater sich auf die Seite seiner Geliebten schlug, nahmen ihm sein Verhalten übel. Neaira bedachte vor allem Proxenos mit einem kühlen Lächeln, wenn seine zornigen Blicke ihr folgten. Stephanos Söhne, einst boshafte Knaben, hatten sich zu solchen Männern entwickelt, die Frauen gerne in ihre Häuser einschlossen und sich abends zu Gespielinnen legten. Neaira fand, dass sie erbärmliche Heuchler waren, unterschätzte jedoch ihre Gefährlichkeit nicht. Sie konnte es kaum erwarten, bis die Brüder auszogen und eigene Familien gründeten. Leider waren sie noch keine dreißig Jahresumläufe alt und würden noch einige Zeit in Stephanos Haus leben.
19. Kapitel
Eine zu kluge Gemahlin
Als Phano sechzehn Jahre alt wurde, erkannte Neaira die Dringlichkeit sie baldmöglichst zu verheiraten. Thratta hatte ihr zugetragen, dass eines von Phanos Gewändern einen großen Weinfleck aufwies. Da Phano im Haus von Stephanos auf Geheiß Neairas keinen Wein trinken durfte, fragte sich Thratta, woher der Fleck kam. Neaira beauftragte die Sklaven, Phano zu beobachten. Bald wusste sie, dass ihre Tochter sich spät nachts aus dem Haus schlich, wobei ihr ein junger Sklave half, dem sie schöne Augen machte.
Neaira erzählte Stephanos nichts von Phanos heimlichen Ausflügen. Stattdessen schlich sie sich eines Nachts in Phanos Gemächer und wartete auf sie. Erst gegen Morgen, kurz bevor die Sonne aufging, hörte Neaira Getuschel und leises Gekichere aus dem Garten. Als sie an die Fensteröffnung trat, sah sie Phano mit dem jungen Sklaven an den Büschen entlang schleichen. Sie hielt seine Hand wie eine Nymphe, ihr Gesicht war weiß geschminkt, ihr voller Mund rot, und bevor er eine Leiter aus den Büschen zog und sie an die Hauswand lehnte, zog er Phano an sich und küsste sie leidenschaftlich. Neaira schüttelte den Kopf. „Ein hübscher junger Knabe“, flüsterte sie, während sie die beiden beobachtete. „Leider können hübsche junge Knaben keine Gatten werden, bevor sie nicht bärtige alte Männer geworden sind ... und Sklaven können keine freien Bürgerinnen heiraten. Wer wüsste das besser als ich.“ Als die beiden sich voneinander lösten, konnte Neaira einen Blick auf das Gesicht des jungen Mannes erhaschen. Seine Lippen besaßen einen schönen Schwung, seine Augen ein verschmitztes Lächeln. Neaira kannte ihn vom Sehen, auch wenn sie kaum jemals ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Er war eines der zahllosen Gesichter, die in Stephanos Haus arbeiteten. Unvermittelt musste sie an Hylas denken. Ihr dummen hübschen Jünglinge.
Das Lächeln einer Frau ist euer Verderben.
Neaira wartete, bis Phano durch die Fensteröffnung geschlüpft war, und packte den Arm ihrer Tochter. Phano erschrak, behielt aber die Nerven und schrie nicht. Als sie Neaira erkannte, wurde ihr Blick düster. Sie schüttelte Neairas Hand ab, als wäre sie ein lästiges Insekt. „Warum läufst du nicht zu meinem Vater und erzählst es ihm?“
Phano suchte erst gar nicht nach Ausreden.
„Du bist dumm, Phano. Ich dachte in deinem hübschen Kopf wäre mehr Verstand. Wie kannst du dich mit einem Sklaven einlassen?“
Phano ließ sich an ihrem Schminktisch nieder und begann ihre Haare zu kämmen. Ohne Neaira anzusehen, antwortete sie: „Sein Name ist Narziss.“
„Wie passend“, gab Neaira spöttisch zu.
Zornig fuhr Phano herum. „Wie kannst du es wagen?
Bist du nicht selbst eine Sklavin im Haus meines Vaters?
Wie weit kommt es, dass eine Sklavin über einen Sklaven zu richten wagt!“
Neaira verbarg Bitterkeit und den Schmerz, die Phanos grobe Worte in ihr heraufbeschworen. Wie sollte sie diesem Mädchen begreiflich machen, was sie in Phanos Alter selbst nicht begriffen hatte? Trotz ihres Kummers blieb sie gelassen. „Was willst du tun, Phano? Mit ihm fortlaufen?“
Neaira sah Phano fest in die Augen. „Weißt du, was sie mit ihm tun werden, wenn sie herausfinden, dass er eine freie Frau angerührt hat?“
Phano legte ihren Kamm zur Seite und antwortete nicht. Dann erhob sie sich und musterte Neaira. „Ich streife nur mit ihm durch die Stadt – er zeigt mir die Orte, an denen das Leben stattfindet. Ich bin immer verschleiert und verhalte mich
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