Der Gesang des Satyrn
Augen.
„Ich will deinen Karren kaufen.“
„Ich brauche meinen Karren, wie du siehst. Was tut eine Frau nachts allein auf der Agora? Bist du deinem Gatten davongelaufen?“
In diesem Augenblick wusste Neaira, dass sie unvorsichtig gewesen war. Sie hätte keine schlechtere Wahl treffen können als diesen Mann anzusprechen. Er war grausam, und sie zweifelte nicht daran, dass er bereits überlegte, ob es klug wäre herauszufinden, wer sie war, um sich eine Belohnung zu sichern. Neaira verfluchte sich für ihre kopflose Flucht. Wenn sie nun Angst und Schwäche zeigte, wäre ihr Schicksal besiegelt und Phrynion würde sie nie wieder aus dem Haus lassen. Es half nichts, sie musste versuchen ihn zu täuschen. Herrisch fuhr sie ihn an. „Was kümmert es dich? Ich habe gesagt ich kaufe deinen Karren, und ich bezahle dich dafür.“
Sein überhebliches Getue wurde zu Unsicherheit.
Neaira zwang sich ihm in die Augen zu sehen, obwohl sie diesen Mann verabscheute. „Was ist? Soll ich einen der anderen Händler fragen? Es gibt ja genügend von ihnen hier.“
„Was bist du bereit zu zahlen?“
Sie zog eines ihrer Ohrgehänge vom Ohr. Die Bündel zu öffnen wagte sie nicht, denn sie fürchtete die Gier des Fremden.
„Das ist zuviel für einen Wagen“, antwortete der Händler misstrauisch. „Vor wem läufst du davon, Frau?“
Wieder hätte sie sich selbst ohrfeigen können. Wer zu großzügig war, erweckte schnell den Eindruck, es eilig zu haben. Ohne darüber nachzudenken, wies Neaira auf das dürre Sklavenmädchen. „Ich will nicht nur deinen Wagen, ich will auch deine Sklavin kaufen. Ich brauche eine Sklavin, die den Wagen lenken kann. Entscheide dich oder ich mache das Geschäft mit einem anderen.“
Der Mann kratzte sich am Kopf und sah dann zu seiner Sklavin, die mit gesenktem Kopf neben ihm stand. „Sie ist mir lieb und teuer, meine kleine Thratta“, antwortete er gedehnt. Neaira ließ sich nicht beirren. „Sie ist eine Sklavin – sicherlich hast du mehr als nur diese eine. Was ist also?“
Erneut schätzte er sie ab, versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Schließlich nickte der Händler. Eine Frau, die derart befehlsgewohnt mit ihm sprach, war ihm nicht geheuer.
Vielleicht war sie die Gattin eines reichen Bürgers. Dann wäre es unklug sie festzuhalten, auch wenn sie fortgelaufen war. Sie könnte behaupten er hätte sie angefasst, und ihr Gatte würde ihn bestrafen lassen. Nein, die Weiber waren alle gleich, dumm aber listenreich. Er würde selbst zu einer List greifen müssen. „Gut, ich bin einverstanden.“ Herrisch wies er seine Sklavin an, die restlichen Waren zu entladen und hielt dann die grobe Hand auf, in welche Neaira das Ohrgehänge fallen ließ.
Ohne Hast ließ sich Neaira von Kokkaline auf den Wagen helfen. Noch immer stand die Sklavin mit dem Namen Thratta neben dem Wagen. Ihre großen Augen sahen hilflos von Neaira zu ihrem Herrn und wieder zurück, nur um dann auf ihre nackten Füße zu starren.
„Steig auf den Wagen“, wies Neaira sie an. Das Mädchen hob den Kopf.
„Sie mag wohl nicht mit dir gehen“, bekannte der Händler grinsend. Neaira hätte ihn zu gerne seine eigene Weidenrute spüren lassen. Es war offensichtlich, dass das Mädchen vor Angst wie erstarrt war. Neaira stieg vom Wagen und versetzte Thratta eine Ohrfeige, woraufhin diese aus ihrer Starre erwachte und ihre neue Herrin erschrocken ansah.
„Steig auf den Wagen, Thratta.“
Aus den schwarzen Perlaugen begannen Tränen zu kullern, bis schließlich Kokkaline Thrattas Hand nahm.
„Komm schon, Hündchen, du musst keine Angst haben.“
Tatsächlich schienen Kokkalines Worte sie weitaus mehr zu beruhigen als Neairas Entschlossenheit. Das Leben hatte sie nicht gerade zartfühlend gemacht, das wusste Neaira. Doch insgeheim lächelte sie über den Namen, den Kokkaline der neuen Sklavin gegeben hatte. Sie hat wirklich große traurige Augen wie ein Hund ... also habe ich jetzt zu meinem Kätzchen auch noch ein Hündchen bekommen. Obwohl sie das Mädchen schon jetzt mochte, wies sie Thratta mit strenger Stimme an, den Esel anzutreiben. Rumpelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. Der Händler hatte das Geschäft seines Lebens gemacht. Ein Rad des Wagens eierte, und die Achse quietschte nervenaufreibend. Erst als sie die Agora verlassen hatten und den Blicken des Händlers entkommen waren, entspannte sich Neaira. Thratta saß noch immer zwischen ihr und Kokkaline als würde sie Angst haben gefressen zu werden. Neaira
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