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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Fiolka
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sie mit Kokkaline sah, lag in seinen Augen eine tiefere Dunkelheit als Neaira sie jemals zuvor bei ihm zu sehen geglaubt hatte. Er sprach nicht - er stand nur da und sah Neaira an. Dann wandte er sich um und ging.
    „Morgen werde ich aller Blicke und Phrynions Eifersucht zum Trotz in den Tempel gehen und Athene noch einmal um Schutz und Hilfe anflehen“, sagte Neaira, als er fort war. „Ich weiß nicht mehr, was ich sonst tun könnte. Ich wage nicht ihn zu verlassen, und er wird mir auch das Schreiben nicht überlassen, das meine Freiheit bezeugt.“
    Am nächsten Tag wartete sie bis Phrynion das Haus verlassen hatte und machte sich dann auf den Weg. Neaira verzichtete auf einen Schleier. Wenn sie Scham zeigte, würden sie noch gehässiger über sie reden, denn die Boshaftigkeit der Menschen, so wusste Neaira, traf immer die Wehrlosen. Tatsächlich begann das Getuschel, wo immer Neaira erkannt wurde. Die Gäste von Chabrias Fest hatten nicht schnell genug herum erzählen können, dass sich die berühmte Hetäre Neaira jedem bis hin zum niedersten Sklaven hingegeben hatte - und das vor aller Augen. Jeder von ihnen hatte es gesehen, doch natürlich behauptete auch jeder der die Geschichte weitererzählte, dass er selbst sich tugendhaft verhalten habe und nicht an der Orgie beteiligt gewesen sei. Diese Heuchler! Neaira brannten die Blicke blasser und missmutiger Gattinnen im Rücken, die sich abwandten, als sie am Tempel erschien.
    Lautstark riefen sie den Priestern zu, dass sie mit einer solchen Frau nicht in einem Raum würden sein können.
    „Kein einziges Opfer werden wir mehr für Athene bringen, und für die Bettler geben wir auch keinen Obolus mehr, wenn diese Frau auch nur einen Fuß in den Tempel setzt.“
    Sie hackten, schnatterten, schlugen mit ihren gerupften Flügeln um sich - sie waren die Eifrigsten in ihrem Zorn – die geschmähten Gattinnen, deren Männer ihre Hetären beschenkten und an ihren Frauen herumgeizten. Ein paar Hetären hatten sich zu einer Gruppe zusammengetan und kicherten. Bald gäbe es Platz für eine neue Berühmtheit in Athen. Die Männer, welche Neaira stets begehrlich angestarrt hatten, senkten den Blick oder taten als wäre sie überhaupt nicht da. Neaira kostete es alle Kraft und Selbstbeherrschung derer sie fähig war, doch sie sah nicht zu Boden noch ging sie zögerlich die Stufen zum Tempel hinauf.
    Ein junger Priester, noch in der Ausbildung, kam ihr auf den Stufen entgegen. Er war diensteifrig und sah Neaira kaum an, als er sich ihr in den Weg stellte. „Es tut mir leid, 334
    ich kann dich nicht in den Tempel lassen. Komm ein anders Mal wieder, wenn die Gemüter sich beruhigt haben.“
    „So zeigen selbst die Götter und deren Priester sich menschlich und fehlbar.“
    Es war ihm furchtbar unangenehm, dass gerade er mit ihr reden musste. „Athene kann auf die großzügigen Opfer dieser Frauen und ihrer Gatten nicht verzichten.“
    „Athene oder ihre Priester?“, antwortete Neaira kühl und drückte dem jungen Mann großzügig Münzen aus ihrem Geldbeutel in die Hände. „Wenn du ehrlicher bist als sie, wirst du in meinem Namen Athene diese Münzen opfern und sie bitten, dass sie mich anhört. Wenn du ebenso unehrlich bist wie die meisten deiner Art nimm dir ein paar der Münzen für dich selbst, um dich mit Huren zu vergnügen, und spende Athene den Rest in meinem Namen.“
    Er lief rot an und suchte nach einer Erklärung.
    Augenscheinlich fühlte er sich ertappt bei ihren Worten.
    Neaira wandte sich ab und ging die Stufen ohne Eile wieder hinunter.
    Als sie zurück in Phrynions Haus war, ließ sie die Schultern hängen. Selbst dieses Haus war besser als die Blicke der Menschen. Hier konnte sie sich wenigstens verstecken und sich von Kokkaline trösten lassen. Neaira war froh, Kokkaline mit nach Athen genommen zu haben.
    Die Sklavin war ihr zur einzigen Vertrauten geworden. Sie wollte nur noch in ihre Gemächer ... süßes Vergessen im Schlaf finden, wenigstens für ein paar Stunden ...
    „Meine schöne, doch treulose Geliebte ist zurückgekehrt!“ Phrynion lehnte an einer Säule im Andron, sein Gesicht zu einer Maske versteinert. Doch er hatte nicht getrunken. Seine Augen waren klar und seine Stimme ruhig. „Warst du bei Chabrias, deinem Liebhaber, von dem du mir nichts erzählt hast? Oder warst du auf der Agora, um deinen Leib jedem anzubieten, der ihn begehrt?“
    Er hatte auf sie gewartet wie der Löwe auf die Beute.
    „Nein“, antwortete Neaira so gemessen,

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