Der Gesang des Satyrn
beschloss, die Maske der strengen Herrin abzulegen und Thratta aufzuheitern.
„Warum zitterst du noch immer, Thratta? Wirst du die Schläge und seine Grobheit vermissen? Hätte ich dich lieber bei ihm lassen sollen?“
Thratta hob den Kopf und sah sie an. Ihre Glasflussaugen glänzten. Neaira erkannte überrascht, dass Thratta nicht vor ihr Angst hatte. „Nein, Herrin ... aber ich glaube nicht, dass er uns gehen lässt. Er wird Männer schicken, die uns abfangen. Dann wird er mich verprügeln und auf sein Lager zerren, wie er es immer getan hat.“
„Dann sollten wir so schnell wie möglich die Polis verlassen.“
„Er kennt viele von den Stadtwachen“, wagte Thratta einen ängstlichen Einwand.
Thrattas Befürchtungen bewahrheiteten sich. Am Stadttor wurden sie angehalten und aufgefordert, vom Wagen zu steigen. Neaira sah bereits Phrynions versteinertes Gesicht und seine vor Zorn glänzenden Augen vor sich. Die jungen Stadtwachen hatten ihren Wagen angehalten und forderten sie auf hinunterzusteigen.
Die Sonne ging schon auf, und gleich würde die Wachablösung kommen. Dementsprechend müde und gereizt waren die Männer – keine gute Zeit für Verhandlungen.
„Steig endlich vom Wagen“, herrschte der junge Mann sie an und wollte nach ihrem Arm greifen. „Hast du einen Gatten, der bestätigen kann, dass du Athen verlassen darfst? Was ist in den Bündeln?“
Das war also das Ende ihrer Flucht! Gleich würde er die Bündel öffnen, und Phrynion würde kommen und ...
„Was gibt es denn?“ Eine andere Stimme mischte sich ein. Die Wachablösung war gekommen. Der sie anführte baute sich in seinem schwarzen Reitermantel neben dem Karren auf.
„Sie hat einen Karren gestohlen und wie es scheint nicht nur das.“ Der gereizte Mann wies auf die Bündel, die Thratta und Kokkaline sich vor die Brust drückten.
„Aber das ist doch Neaira, die Hetäre des Phrynion.“
Er fasste seinen Kameraden an den Kopf wie um ihm zu beweisen, dass er schon ziemlich schläfrig war. Neaira dankte allen Göttern. Sie kannte ihn oder besser gesagt seinen Vater, der eine eigene Hetäre unterhielt und seinen Sohn einige Male auf Gelage in Phrynions Haus mitgenommen hatte. War er nicht vor einem Jahr noch ein pickeliger Jüngling gewesen, der sie in hoffnungsloser Verliebtheit angestarrt hatte? Auf jeden Fall war er jetzt bei den Stadtwachen und fühlte sich sehr erwachsen. Neaira beugte sich vor und zog den Neuankömmling an seinem Mantel näher zu sich heran. „Athanas, Sohn des Phocas!
Haben wir uns nicht auf Festen und Symposien unsere Weinschalen zu Ehren Dionysos erhoben?“
Der junge Mann blinzelte, berauscht von der unverhofften Nähe zu ihr. „Das haben wir, Neaira. Du musst meinem Freund verzeihen. Man hat ihm gesagt, dieser Wagen wäre von einer Frau gestohlen worden, die versuche ihrem Gatten davonzulaufen.“
Neaira lachte schallend. „Eine schöne Gattin würde ich abgeben, nicht wahr, Athanas? Dieser fette Händler, der mich beschuldigt ... hat er deinem Freund auch gesagt, wie ich es geschafft habe ihn zu überwältigen und dann seinen Wagen mitsamt seiner Sklavin zu stehlen?“ Neaira wies auf Thratta, die neben ihr saß, während Athanas Kamerad rot anlief und sich peinlich berührt räusperte. „Nun ... nein ...
wie solltest du das getan haben? Aber was tust du nachts auf einem Eselskarren, und wohin willst du?“
Sie wurde wieder ernst und sah ihm in die Augen. „Ich bin Neaira, die Athene ihr Gewand streitig machte. Dein Freund Athanas kennt mich. Ich brauche meine Freiheit und bin auf dem Weg nach Korinth, um Freunde zu besuchen. Phrynion bleibt lieber in seinem Haus und betrinkt sich. Das mag er tun, aber ich kann ein solches Leben nicht ständig ertragen. Ich bin wie der Wind, der kommt und geht und seine Entscheidungen trifft, wie es ihm beliebt. Ich reise gern im Dunkel der Nacht.“
Athanas, beeindruckt von ihrer Rede, schob seinen Kameraden zur Seite und baute sich vor ihr auf. „Natürlich werden wir dich nicht aufhalten ... aber es ist gefährlich außerhalb der Stadtmauern. Wenn du es wünscht, begleite ich dich ein Stück.“
Das wünschte Neaira nicht. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Athanas nah an sie heranrutschen und den Arm um sie legen würde, wobei er mehr ihre Brüste zu schützen bemüht wäre als alles andere. Neaira beugte sich vor und küsste Athanas mit gespielter Leidenschaft auf den Mund. Als sie ihn freigab, glänzten seine Augen. „Ich bin die Tochter der
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