Der Gesang des Wasserfalls
spät.
Er hatte sich in den Wirtschaftsteil des
Australian
vertieft, als ein Schatten über die Seite fiel. »Hallo, Matt. Was macht die Börse? Sind die AusGeo-Aktien gestiegen? Gab's diese Woche aufsehenerregende Gold-, Öl- und Diamantenfunde?«
Matthew sah zu seiner Schwester Madison auf. Sie tauschten ein Grinsen, und er dachte wie immer, was für ein gut aussehendes Mädchen sie war. In den letzten Jahren waren sie sich sehr nahegekommen.
»Hallo, Madi. Kann dir keine Tips geben, das wären Insidergeschäfte.«
Er küsste sie auf die Wange, und sie küsste ihn zurück. »Schön, dich zu sehen, Bruderherz.« Sie lächelte und merkte, wie froh sie war, ihren großen Bruder zu sehen.
Matthew betrachtete sie, während sie sich setzte, die Sonnenbrille abnahm und ihre Schultertasche auf den freien Stuhl neben sich legte. »Na … und wie geht's dir?«
Sie verzog die Nase und spielte mit dem dicken blonden Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Ihre großen braunen, goldgefleckten Augen umwölkten sich.
»So lala. Ich fühle mich zappelig, ruhelos. Die Scheidung wird in drei Monaten rechtskräftig. Dann bin ich auf mich selbst gestellt. Zumindest psychisch. Einerseits denke ich, dass ich diesen Tag feiern sollte. Aber genauso gut ist es möglich, dass ich gar nicht merke, wenn es soweit ist. Vielleicht könnten wir ja mit ein paar deiner tollen Kumpel zum Essen gehen.«
Matthew grinste seine Schwester an, die mit ihren siebenundzwanzig Jahren immer noch wie ein Schulmädchen aussah. Sie war mittelgroß und ungewöhnlich schlank für die Kraft, die sie besaß. Sie konnte fast genauso schwer heben wie er. Als sie ihre Möbel in die neue Wohnung transportiert hatten, war er erstaunt gewesen, wie stark sie war. Aber jetzt kam sie ihm irgendwie kleiner und schwächer vor. Und sie war so blass.
Obwohl sie zwei Jahre jünger war als er, hatte er das Gefühl, dass sie sehr viel mehr durchgemacht hatte.
»Madi, du bist schon seit sechs Jahren ›auf dich selbst gestellt‹. Seit du dich Hals über Kopf in diese miese Ehe gestürzt hast. Ich kann nur sagen, Gott sei Dank habt ihr keine Kinder. Geoffrey ist ein Versager, ein Zauderer und nicht gut für dich. Lass uns das nicht alles wieder aufwärmen. Du weißt, dass ich ihn nie leiden konnte. Ich war froh, dass ich damals so viel im Ausland war. Gut, dass du es hinter dir hast. Warum wechselst du nicht die Stelle? Du könntest um Versetzung bitten, dich in einem anderen Hotel der Kette unterbringen lassen. Am besten im Ausland. Würde dir nur gut tun.«
Die Kellnerin kam mit zwei Gläsern Wasser und der Speisekarte. Madison bestellte einen Milchkaffee und sah in die Speisekarte, legte sie gleich wieder weg und griff nach dem Wasserglas.
»Ich nehme den warmen Tintenfischsalat. Kann ich nur empfehlen. Mit Knoblauchbrot«, sagte Matthew.
»Klingt gut.«
Matthew hatte das Gefühl, sie hätte zugestimmt, selbst wenn er gekochte Pappe vorgeschlagen hätte. Er lächelte sie ermutigend an. »Was bedrückt dich wirklich?«
»Ich bin mir nicht sicher. Na ja, schätze, ich weiß es doch … Geoff natürlich. Ich bin froh, dass es vorbei ist, aber ich komme mir vor, als hätte man meine Haut mit Sandpapier abgerieben. Ich fühle mich völlig entblößt und sehr verwundbar. Vieles kommt wieder hoch, und ich wundere mich, warum ich die Zeichen nicht früher erkannt habe. Ich dachte, wir wären wirklich glücklich zusammen, und sah nicht, was vor sich ging, was er mir antat …«, ihre Stimme zitterte, »… was ich mir selbst antat.«
»Madi, du hast überhaupt nichts getan. Vielleicht warst du zu nett, zu sanft. Ich konnte nie verstehen, wieso du dir das alles hast gefallen lassen. Diese Spitzen, die er ständig gegen dich losließ, so oft, dass ich ihn am liebsten zusammengeschlagen hätte. Du warst immer so kleinlaut, dass mir ganz schlecht wurde.«
Er beugte sich vor und sagte mit ernster Stimme: »Wo ist meine Schwester? Wo ist der Mensch, zu dem ich stets aufgeblickt habe, der mein ganzes Leben lang auf mich aufgepasst hat und den in meinen Augen nichts erschüttern konnte? Wo ist das lustige, draufgängerische, schwungvolle Mädchen, von dem ich dachte, dass es die Welt erobern wird?«
Madisons Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß nicht, Matt. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich hab das alles einfach verloren. Mein Selbstvertrauen, meine Selbstachtung, er hat darauf herumgetrampelt … Er hat mir so oft gesagt, ich sei
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