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Der Gesang des Wasserfalls

Der Gesang des Wasserfalls

Titel: Der Gesang des Wasserfalls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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hatten sich Holzfällerlager in das jungfräuliche Grün hineingeschlagen, mit Trassen für die Fahrzeuge, ein paar blauen Plastikplanen über dem Lager und großen, kahlen, orangefarbenen Einschlagstellen, auf denen die gefällten Bäume wie Streichhölzer durcheinander lagen. Aber das waren alles nur kümmerliche kleine Eindrücke in der Unendlichkeit des Urwaldes.
    Trotz seines Zynismus und seiner abgeklärten Haltung war Ventis visuelle Vorstellungskraft immer noch frisch, und er sah im Kopf diverse Kameraeinstellungen vor sich, während die grünen Wände vor ihnen aufragten, ab und zu wurde das Blätterdach von einer Explosion rosafarbener oder gelbroter Blüten durchbrochen. Sie näherten sich ihrem Ziel, aber diese feuchte Wolkendecke machte ihm Sorgen. Sie hatten nicht geplant, hier oben ein Lager aufzuschlagen und abzuwarten, bis der Himmel sich aufklarte. Das Flugzeug würde nur eine Stunde auf sie warten und dann nach Georgetown zurückfliegen. Mit dem Licht würde es wohl auch Probleme geben. Wasser, blendende Sonne, Feuchtigkeit und Wolken. »Na bravo. Ganz toll«, grummelte er vor sich hin. Wie zum Teufel fanden sie überhaupt solche Wasserfälle, und welche Idioten stürmten dann los, um sich so was wie das da unten anzusehen?
    Er blickte hinüber zu Sir Gavin, der im Schlaf kleine Schnieflaute von sich gab. Idioten wie der. Armer alter Kerl, hatte stets das Gefühl, mindestens hundert Jahre zu spät geboren zu sein. Dieses späte Aufblühen seiner Abenteuerlust war Balsam für lebenslange Frustrationen und hatte ihm darüber hinaus auch noch den Adelstitel eingebracht.
    Edwina, die auf der anderen Seite aus dem Flugzeugfenster schaute, stieß plötzlich einen leisen Schrei aus und winkte Venti aufgeregt zu sich.
    »Großer Gott! Schau! Die Wasserfälle!«
    Der Pilot ging in eine Kurve und flog durch einen Dunstschleier, der wie Rauch vom felsigen Grund des Steilhangs aufstieg, die Schlucht hinauf. Das Flugzeug flog direkt auf den majestätischen Wasservorhang zu, der sich aus dem breiten Fluss namens Potaro ergoss und über den Rand der Schlucht hinabdonnerte. Dampfender, cremiger Schaum stürzte hinab in die Tiefe, zweihundertsechsundzwanzig Meter tief rauschten Guyanas prächtige Kaieteurfälle in den rötlichbraunen Potaro.
    Alle staunten mit offenem Mund über die gewaltige Schönheit dieses aus dem Nichts aufgetauchten Schauspiels, während das kleine Flugzeug höher stieg, über den Rand des Wasserfalls hinauf, und wieder in den Wolken verschwand. Venti fluchte, weil er die Kamera nicht parat hatte. Er hatte geplant, die Fälle beim Abflug zu filmen. Ein Fehler, dachte er trübsinnig. Es war nicht gerade einer der besten Tage des australischen Kameramannes. Zu viel Rum am Abend zuvor.
    Sie landeten wenige Minuten später und holperten über die zwischen nassen Grasbüscheln verlaufende rote Lehmpiste.
     
    Die erste Einstellung drehten sie mit einer Aussicht auf die Wasserfälle im Hintergrund. In ernstem und bewunderungsvollem Ton sprach Sir Gavin den »tapferen und hartnäckigen Pflanzensoldaten, die sich ihren Weg über diesen kargen Sandsteinabhang nach oben erkämpften, sich in haarfeinen Spalten festklammerten, ein Basislager errichteten und, genährt vom Sprühwasser der Fälle und dem sich um ihre Wurzeln bildenden Humus, keimten«, seine Hochachtung aus.
    An dieser Stelle würden sie Nahaufnahmen von zarten Flechten, Moosen, Orchideen und Farnen einblenden, die an den seitlichen Abhängen des Wasserfalles wuchsen.
    »Jahrhundertelang ohne Störung von außen, konnten sich in diesem Mini-Ökosystem Pflanzen, die wir als selten und kostbar betrachten, zu gutartigen Monstern entwickeln.«
    Nun richtete sich Sir Gavin aus seiner hockenden Stellung auf, so dass die Fälle über seine Schulter hinweg zu sehen waren, und wies Edwina an, sich zu notieren, dass man noch »eine Aufnahme der riesigen Bromelie, die dort hinten am Pfad wächst«, machen müsse. Zu dem Piloten gewandt, der ihnen als Führer diente, bellte Sir Gavin: »Also dann, Mr. McPhee, auf zu den Fällen.«
    Venti und Hase bildeten die Nachhut der Gruppe und stapften ihnen, beladen mit ihrer schweren Ausrüstung, in der dampfigen Feuchtigkeit keuchend und schwitzend hinterher. Sie blieben stehen, als der Pilot sie darauf hinwies, dass beim Gehen über die schlüpfrigen, tropfenden, mit Flechten bewachsenen Steine am Rand der Fälle Vorsicht geboten sei. Die Fälle waren nicht zu sehen, aber sie hörten das nahe Tosen des

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