Himmelsschwingen
Hätte sie an jenem Junimorgen zur Festungsinsel hinübergesehen, statt sich nach einer langen Nacht auf ihr Lager sinken zu lassen, wäre sie vielleicht Zeugin einer ungewöhnlichen Begegnung geworden. Ein Engel saß in beachtlicher Höhe auf dem rechten Arm eines goldenen Kreuzes, an dem ein deutlich größeres Abbild des himmlischen Kriegers solcherart befestigt war, dass man glauben konnte, er flöge mit seiner doppelten Last über den außerordentlich spitzen Kirchturm hinweg.
Während sich bei der Ahnungslosen dort unten ein erster Traum einstellte, erschien ein weiteres geflügeltes We sen, das ihr gewiss gefallen hätte – war doch nicht zu übersehen, dass es sich um eine besondere Himmelsbotin handelte. Sie flog in einem langgestreckten Bogen um den sonderbaren Turm herum, ließ sich danach auf die linke Seite des Kreuzarms fallen und beugte sich weit vor, wie es wohl nur jemand wagte, der sich seiner Unsterblichkeit in diesem Augenblick ganz sicher sein konnte. Nicht aber so weit, wie es der andere neben ihr tat.
»Na?«, sagte sie, nachdem klar war, dass er das Gespräch nicht eröffnen würde. »Denkst du über deinen Sturz nach?«
Samjiel sah auf. Mit einem Blick erfasste er die Tätowierungen, die ihren Körper zierten und an die Ikonen erinnerten, von denen er eine in seiner Tasche trug. Als hätte er sie gern länger angesehen, zögerte der Engel und wandte den Kopf dann doch beiseite. »Du hast nichts an!« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Iris.«
»Mein Ruf eilt mir voraus?«
Der Engel wusste nicht, ob sie damit ihre Vorliebe für Freikörperkultur meinte – gleichwohl er noch nie gehört hatte, dass es eine solche unter Engeln überhaupt gab –, oder ihren Körperschmuck, der sie in der Tat zu einer einzigartigen Himmelsbewohnerin machte.
Sie ließ die Beine baumeln und betrachtete die lackierten Fußnägel, deren grüne Farbe sich in der Girlande aus kleinen Blättern wiederfand, mit der ihre Knöchel geschmückt waren. »Keine Sorge, ich sitze nicht hier, um dich zu richten.«
Dieser Gedanke erschien ihm dermaßen absurd, dass er den Impuls verspürte zu lächeln. Doch der Moment war schnell vorüber, und wer ihn kannte, wäre niemals auf die Idee gekommen, dass es etwas anderes als die Sonnenstrahlen gewesen sein könnten, die sein Gesicht ganz kurz zum Leuchten gebracht hatten.
Womöglich hätte er der leicht dahingesagten Bemer kung einen ungleich schärferen Kommentar entgegengesetzt, aber Iris war schon gesprungen. Dabei hatte sie sich von dem bestimmt für sie recht unbequemen Kreuz abgestoßen, sodass dieses nun stark genug schwankte, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen, die unten auf dem Vorplatz der Kirche standen, den Kopf weit in den Nacken gelegt und das Gesicht seltsam verzogen bei dem Versuch, ein Foto vom höchsten Turm der Stadt zu machen. Den Engel, der, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, seine Schwingen geöffnet hatte, sahen sie allerdings nicht.
Wachsam beobachtete Samjiel ihren Fall – die Leute interessierten ihn nicht – und gestattete sich, die selbstverständliche Eleganz zu bewundern, mit der die farbenfrohe Gestalt erst in letzter Sekunde vor dem Aufprall die glänzenden Flügel ausbreitete und mit wenigen Schlägen in den Himmel aufstieg, wo er sie bald aus den Augen verlor. Warum er dabei etwas spürte, das ihm ein anderer als Verlustgefühl hätte erklären können, wusste er nicht. Wollte es nicht wissen, denn es war nicht nur unbegreif lich, weshalb er auf einmal Gefühle haben sollte – dies war ja auch strengstens verboten. »Bin ich verdammt?«, fragte er eine vorübergleitende Möve, die keine Antwort gab, sondern erschrocken abdrehte, während Samjiel Iris’ Flug manöver imitierte und über die glitzernden Fluten der Newa davonflog.
Als am nächsten Tag der blau schimmernde Abendhimmel auf eine rosige Morgensonne traf und die Kellner in den Straßencafés noch weit nach Mitternacht neue Bestellungen aufnahmen, kehrte Samjiel zurück, ließ sich auf dem vergoldeten Kreuz nieder und dachte an seine Mission. Das Mädchen war eine Abnormität, Kind einer Verbindung von zwei gefallenen Engeln; der Junge war eine Überraschung. Keiner Religion zugehörig, fühlte der sich, soviel wusste Samjiel inzwischen, auf eine ihm unbegreifliche Weise zu den Heiligenbildern der orthodoxen Kirche hin gezogen. Mit dem Ergebnis, dass er sie zu stehlen begonnen hatte. Und weil es in seinem Leben keinen Platz gab, um die
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